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Blickkontakt

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25.11.20 17:01
6 Ab 6 Jahren
Fertiggestellt

Der Geruch von Desinfektionsmittel umspielt meine Nase, kaum betrete ich die Zahnarztpraxis; der Puls geht etwas hoch. Heute wird eine Füllung erneuert. Ich freue mich schon.

„Guten Tag Herr Robinson!“, begrüsst mich die Dame beim Empfang überschwänglich. Die Assistentin ist neu. Alle paar Monate gibt’s hier einen Wechsel. Ich weiss, dass ER streng ist.

Ich setze mich auf den Stuhl. Es kann losgehen.

„Guten Tag! Guten Tag!“ Der Zahnarzt hat seinen Auftritt. Er trägt einen silbergrauen Schutzanzug, einen passenden Mundschutz und eine spacige Schutzbrille. Ich weiss nicht, wie er in zivil aussieht, denn die Maske trägt er immer. Schon seit Jahren. Ich vermute aber, dass er in Rente gehen könnte, wenn er möchte. Bestimmt will er gar nicht, kleiner Sadist. Bohren macht Spass.

Der Stuhl kommt in Bewegung. „Ich werde Sie jetzt ein klein wenig nach hinten kippen. Es geht um den Stockzahn ganz hinten rechts, dafür müssen sie ein klein wenig in die Vertikale... DAN-KE.“

Ich spüre, wie ich kopfüber umgelagert werde. Das Blut rauscht mir in die obere Etage. OH-oh...

„Es tut mir Leid, es geht nicht anders. Nur ein klein wenig leiden, für SO SCHÖNE Zähne.“

Ich fange an zu gurgeln, der Speichelüberschuss bahnt sich neue Wege. „NNNgggg... ääääähhh!---älllll! Älll!“

„Ja, wir haben verstanden. Mademoiselle Anouk: Spucke absaugen!“

Ich sitze ja normalerweise mit geschlossenen Augen da, weil mich der Blickkontakt aus dieser Nähe aus der Ruhe bringt, um nicht zu sagen, nahe dran an einen Lachanfall. Heute schaue ich leicht beunruhigt den Zahnarzt und seine Neueste an. Irgendwie ist die Stimmung ruppiger als sonst.

„Anouk hat heute ihren ersten Tag“, erklärt er.

„NNNgggg, ähä...“

Nun drückt Anouk also auf den Knopf. Leider auf den Falschen. Sie spritzt mein Gesicht voll, anstatt abzusaugen.

„Oh Gott...“ sie hantiert panisch, kann sich aber ein Lachen nicht verkneifen.

Ich spüre, wie das Wasser meinen Hals hinaufläuft.

„Sind Sie eigentlich dämlich, oder was?!!“ herrscht er sie an. „Reissen Sie sich mal zusammen!“

„’s ist mein ers’r Tag“, jammert sie kleinlaut.

„Der Herr da muss nachher arbeiten geben. Jetzt schauen Sie mal, wie der aussieht! Sie haben ihn buchstäblich abgeduscht!“ Seine Augen verraten was Anderes. Auch er kann sich den Lachanfall kaum verkneifen. „Gut, kon-zen-trie-ren wir uns“, singt er. „Zweite Chance für Anouk Ladinde!“

Die nächsten zwanzig Minuten geschieht nichts mehr Aussergewöhnliches in meinem Mundraum, ausser dass ich kaum noch bei Bewusstsein bin, weil ich eine halbe Ewigkeit in dieser ach so bequemen Liegeposition überleben muss.

„Halten Sie durch, Monsieur. Für die Schönheit Ihrer schönen Zähne...“

Ja, ich hab’s verstanden, dass meine Zähne nicht mehr die neuesten sind.

Na gut.

Ich atme zwar nicht mehr richtig, aber ich werde es auch diesmal überleben.

„Ich werde ihm 20%, nein sagen wir mal 25% Rabatt gewähren.“

Was hat er gesagt?

Ich öffne die Augen, die ich vorhin doch noch geschlossen hatte und schaue ihn an. „NNNggg???“

„Haben Sie Schmerzen?“, fragt er nach. Und ergänzt: „Was hat er denn jetzt wieder?? Er soll doch nur stillhalten.“ Er räuspert sich. „Monsieur Robinson? Alles okay bei Ihnen? Bitte ein deutliches Handzeichen...“

OOHH... ich habe verstanden. Auch seine Gedanken kann ich lesen... Ich winke mit beiden Händen ab und schliesse die Augen wieder. Lass mal hören, Oldie... gut zu wissen. Er gehört also zu denen, die ich anzapfen kann. Das ist mir kürzlich schon mal gelungen. Bei der Vermieterin, die sich nicht entscheiden konnte, wem sie die Wohnung geben wollte – mir oder dem Buchhalter, der im Hintergrund durch das leere Wohnzimmer stolzierte. Sie dachte: wer als Erster was Nettes sagt, hat die Wohnung...

Es war so etwas wie Kopf oder Zahl...

Nun gut... ich gab ihr, was sie wollte. Ich fing herzallerliebst zu lächeln an, als ich zum Fenster hinausschaute, auf den Parkplatz. Ein Chihuahua wirbelte wie eine nervöse Mücke im Innenraum eines Mini Cooper herum, das war meine Chance: „Ist das Ihrer?“

Sie schaute ebenfalls hinunter. „Oh... Carambole! ...ja, ist sie nicht süss?“

„Ich liebe Hunde“, sagte ich, dachte dabei aber: „einfach keine Chihuahuas... diese kleinen Arschkriecher.“

„Wie schön...“ sie lächelte mich süss an. „Nun... wenn Sie keine Fragen mehr haben, würde ich die Besichtigung gerne abschliessen.“

Eine Stunde später hatte ich die telefonische Zusage für das Mietobjekt. DAN-KE.

Aber zurück zu meiner misslichen Schieflage, kopfüber, in der Dauervertikalen ...bei Dr. Seltsam.

Was denkt ein wohlhabender Zahnarzt Anfang siebzig, der die halbe Stadtbevölkerung plombiert, gebrückt, bekront und poliert hat?

„Seine Mutter war die Beste! Catherine... Liane... Robinson... ein göttlicher Name für eine royale Assistentin.“

Uuuuhhh... was kommt jetzt ans Licht? Meine Mutter arbeitete tatsächlich mal hier. Vor vierzig Jahren...

„Ich musste sie nur ansehen, und sie wusste, welche Knöpfe zu drücken waren. Welches Komposit zubereitet werden musste, damit die Füllung unsichtbar bleiben würde, perfekt an die ...ZAHNRUINE... des Patienten angeglichen. Catherine Liane Robinson... so eine gab’s kein zweites Mal.“

Ich hoffe, er hat sie nicht begrabscht, denke ich verärgert.

„Sie brachte oft Süssigkeiten mit für unsere kleine, liebliche, gemeinsame Pause. Prussiens, englisches Konfekt, Champagner-Truffes, Mini-Eclairs, Macarons und dazu café au lait, immer café au lait...“

„Ngggg-nggg!!!“

„Ach halt doch den Mund da unten! Deine Mutter war eine Erscheinung. Und du? Du hast überhaupt nichts von ihr. Wenn ICH dein Vater geworden wäre, dann wärst du jetzt mein Nachfolger, und ich könnte endlich diese elende Praxis aufgeben und mit deiner Mutter in den Ruhestand gehen. Aber nein... sie musste ja unbedingt diesen Architekten heiraten! Sie musste deinen Vater heiraten!“

Jetzt mischt sich eine andere Stimme in meine Gedanken. „Oh Mann, träumt dieser blöde Arsch noch lange herum??“

Es muss Mademoiselle Anouk sein.

Sie ist es. Sie ruft: „Monsieur! Monsieur!! Wie lange muss ich denn NOCH die Lampe hinhalten. Ist der nicht längst gehärtet?!“

Wovon spricht sie?

„Die Füllung! Was meinst du denn?!“, beantwortet sie ...meinen Gedanken.

Nicht möglich! Anouk kann das auch. Ich muss mich konzentrieren... meine Güte... geht etwa ein Virus um, welches neue Fähigkeiten erzeugt?

Der Zahnarzt beendet die Behandlung, bringt mich in die Horizontale und zuletzt in die Originalsitzposition.

„Sie können spülen.“

Ich spüle, japse nach Atem... „war anstrengend heute.“

„So kann es manchmal sein.“ Er sieht mich melancholisch an. „Mein ganzes Leben ist schon so. Ein ganzes Leben lang unverheiratet... nur weil die Richtige abgehauen ist.“

Soll ich ihm was erzählen? ...denke ich. Soll ich ihm sagen, dass meine Mutter geschieden ist und ebenfalls solo? Will ich den bei Familienfeiern dabei haben, falls es zwischen ihnen funken sollte?

„Ich kannte Ihre Mutter“, verrät er im belanglosen Plauderton.

„Ich weiss...“

„Grüssen Sie sie bitte herzlich von mir?“

„Sag ja!“, denkt Mademoiselle Anouk Ladinde. „Sag ja, dann verrechnet er dir nur den halben Preis!“

Ich sehe ihr lange in die Augen und frage mich, wie unsere Welt wohl aussehen wird, wenn jeder angesteckt ist und jeden durchschauen kann...

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Sillys Profilbild
Silly Am 25.11.2020 um 21:01 Uhr
Obwohl ich wahnsinnige Angst vorm Zahnarzt habe, musste ich diese Geschichte unbedingt zuende lesen. Wieder eine tolle Geschichte mit Witz und sehr guten Beschreibungen der Situation.

LG Silly
funnybitss Profilbild
funnybits (Autor)Am 25.11.2020 um 21:12 Uhr
liebe silly. ich musste in diesem jahr 5x dorthin, ich dachte, es reicht, rache ist süss :-)))) vielen dank für dein tolles feedback und die bewertung! lg, robert

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