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Wenn das Ende doch nur am Anfang wär'

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28.10.20 10:59
12 Ab 12 Jahren
In Arbeit

Am Fenster flog ein Vogel vorbei und setzte sich auf den Zaun vor dem Vorgarten. Er stolzierte über die Bretter, zwitscherte und spielte mit den Flügeln. Die kalte Luft um ihn herum schien ihn nicht zu stören, seine Aufmerksamkeit galt einer Vogeldame auf einem nahegelegenen Baum. Sie antwortete seinem Balz und er spreizte die Flügel, stieß sich ab und flog zu ihr.

Tim stand an der Küchentheke und sah ihm hinterher. Nunja, er sah ihm nicht wirklich hinterher. Sein Blick verlor sich schon weit vor dem Fenster, bevor er auch nur irgendetwas erreichte, was nicht absolute Leere war. Er zitterte, wusste aber nicht wirklich, warum. Das Glas mit eiskaltem Wasser, das er sich eingeschenkt hatte, weil er mal wieder aus dem Bett aufgeschreckt war, stand unberührt neben ihm. Es war fünf Uhr morgens und schon hell draußen, die ersten Strahlen tauchten die Welt in schwaches Licht. Die Morgendämmerung sorgte immer dafür, dass Tim sich fühlte, als lebte er in einer fremden Welt. In einer merkwürdigen, leeren Welt, die kein Anfang und kein Ende hatte.

Tim lief zum Küchentisch und starrte auf den Brief, der dort lag. Er fühlte sich nicht wirklich bereit, aber jetzt wo er wach war, konnte er es auch gleich hinter sich bringen. Marie und der Kleine schliefen noch, was bei der Uhrzeit auch nicht verwunderte. Er wollte sie nicht wecken, also würde er gehen müssen, ohne sich zu verabschieden. Das machte ihm mehr zu schaffen, als er sich eingestehen wollte. Mehr, als es wirklich nötig war. Aber dieses ungute Gefühl nagte an ihm, das ihn kurz innehalten ließ. Er schüttelte sich, griff nach dem Brief, der seine Kündigung enthielt und ging aus dem Haus. Es war kalt, kälter, als es von drinnen aussah. Tim sog die eisige Luft ein, seine Lunge protestierte und die Kälte durchströmte seinen Körper. Er atmete aus und die Atemluft manifestierte sich vor seinen Augen, formte eine undurchdringliche Wolke, bevor sie sich in der Weite wieder verlor. Die Kälte ignorierend ging Tim weiter, verließ die Einfahrt und folgte der Straße hinab, auf dem Weg zur Firma, dorthin, wo er nie wieder würde hingehen wollen.

Es hatte schon vor langer Zeit angefangen, schon lange hatte er mit der Entscheidung gerungen. Doch irgendwann kam immer der Moment, in dem eine Veränderung unabdingbar wurde. Bei der Arbeit lief Vieles nicht so, wie er es sich wünschte. Er hatte darüber nachgedacht, hatte viele Stunden damit verbracht, mit Marie darüber zu diskutieren, wie es für ihn weiter gehen konnte. Er hatte nicht wirklich mit ihr diskutiert, das hätte er sich nie getraut. Die Angst sie zu enttäuschen wäre zu groß gewesen. Aber in seinem Kopf kam die Diskussion immer wieder auf und er versuchte, sie zu überzeugen, dass es das Richtige für ihn war. Die Gespräche nahmen in seinem Kopf die unterschiedlichsten Formen an, manchmal schrie sie ihn an, manchmal zeigte sie Verständnis. Manchmal, und das waren seine liebsten Diskussionen, stimmte sie ihm sogar zu.

Aber jetzt war es zu spät. Jetzt wollte er nicht mehr diskutieren, jetzt wollte er es nur noch hinter sich bringen. Mit ihrer Reaktion würde er leben müssen, mit ihrer Wut und Enttäuschung, mit ihrer Trauer. Aber sie hätte ihn sonst wahrscheinlich davon überzeugt, es nicht zu tun. Und es nicht zu tun war für ihn absolut keine Option. Er hatte genug, hatte genug erlebt und genug gesehen, genug über sich ergehen lassen. Seine Entscheidung war gefallen und sie war auch nicht mehr umkehrbar. Wenn er die Kündigung erstmal bei seiner Arbeit eingeworfen hatte, dann würde es kein Zurück mehr geben. Dann war da nur noch die Zukunft, der Weg nach Vorne.

Er nahm, wie immer, die Abkürzung durch den Park. Früh am Morgen war es hier immer so schön leer und man hatte beinahe das Gefühl, draußen in der Natur zu sein. Draußen, weit entfernt von all den Menschen und von all dem Leid, dass sie mit sich brachten. Auch jetzt war kaum jemand zu sehen. Weiter vorne lief eine Frau mit ihrem Hund, den Kragen ihrer Jacke hochgezogen und die Hände in dicke Handschuhe gepackt. Sie ging gebeugt und zielstrebig, wollte wieder nach Hause in die Wärme, zu ihrem Mann vielleicht, oder einfach nur in die Geborgenheit ihres Bettes. Tim löste seinen Blick von ihr und ging den Weg entlang. Die Vögel zwitscherten, hießen den neuen Tag willkommen. Die Blätter der Bäume tanzten im Wind und die ersten Motorgeräusche startender Autos machten klar, dass es ein Tag wie jeder andere werden würde.

"Junger Mann, wieso machen Sie denn so ein ernstes Gesicht?"

Tim zuckte zusammen und drehte sich zu einer Parkbank. Ein alter Mann saß dort und sah ihn besorgt an. Er trug einen dunklen Anzug, der sehr heruntergekommen aussah. Sein schwarzes Haar war unterbrochen von hellen, grauen Strähnen, die ihm eine gewisse Anmut verliehen. Sein Blick musterte Tim, seine Augen wirkten traurig und alt, aber der Rest seines Gesichtes lächelte Tim mit einer tiefen Wärme an.

"Es tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken. Wohin gehen Sie denn so früh am Morgen mit einem so ernsten Blick?"

"Ich muss etwas erledigen."

"Gehe ich recht in der Annahme, dass es nichts Schönes ist?"

"Das weiß ich leider noch nicht." sagte Tim. "Aber ich muss jetzt wirklich weiter."

"Würde es sie stören, wenn ich sie begleite? Bei schwierigen Unterfangen ist es doch immer nützlich, jemanden an seiner Seite zu haben. Und außerdem würde es meinen alten Knochen gut tun, mal etwas Bewegung zu bekommen."

Eigentlich wollte Tim alles so schnell es ging hinter sich bringen. Er wollte es alleine hinter sich bringen. Aber etwas in ihm bäumte sich auf, etwas wollte die schützenden Arme des Mannes annehmen, wollte sich stützen lassen und den Rest des Weges nicht alleine gehen müssen.

"Gut, wenn Sie wollen."

Der alte Mann drückte sich ächzend und seufzend von der Parkbank hoch. Tim sah ihm dabei zu und wollte Mitleid spüren, doch es gelang ihm nicht. Der Mann hatte etwas an sich, dass ihn schaudern ließ, etwas, dass ihn mächtig erscheinen ließ. Tim versuchte zu verstehen, was es war, aber er konnte es nicht erklären. Der Mann wirkte einfach so erhaben, so groß und so kraftvoll. Und das alles, obwohl das Aufstehen von der Bank wie schwerste Arbeit ausgesehen hatte.

Tim ging los und der Mann versuchte, mit ihm Schritt zu halten. Sie liefen schweigend durch den Park, der sich langsam füllte. Überall hasteten Menschen mit Taschen entschlossen die Wege entlang, die Blicke starr nach vorne gerichtet. Niemand redete miteinander, niemand schien die anderen wahrzunehmen.

"Wo genau gehen wir denn hin?" fragte der alte Mann.

"Zu meiner Firma." sagte Tim.

"Ach, Sie gehen zur Arbeit?"

"Naja, nicht wirklich. Eigentlich gehe ich dorthin, um zu kündigen."

Tim wusste nicht, wieso er das einem Fremden anvertraute, sich aber seit Monaten schwer damit tat, mit seiner Frau darüber zu sprechen. Vielleicht war es, und je mehr er nachdachte, desto sicherer war er sich, weil er sie liebte.

Der Alte lächelte. "Sie wollen kündigen?"

"Ja, ich glaube schon."

"Und der Brief, den Sie herumtragen?"

"Ist die Kündigung."

Sie gingen schweigend weiter, aus dem Park hinaus und die Straße entlang, die zu Tims Firma führte. Auf der anderen Straßenseite lief die Frau mit ihrem Hund, die Tim im Park gesehen hatte. Sie starrte auf ihr Smartphone, während ihr Hund genüsslich an ein Auto pinkelte. Dampf stieg auf, als die Blasenflüssigkeit auf die kalten Reifen traf.

"Sie sind verheiratet?" fragte der Alte.

"Wie kommen Sie darauf?"

"Der Ring." sagte der Alte und deutete auf Tims rechte Hand.

"Oh, ja. Seit fünf Jahren." Tim war froh, dass der Alte nicht fragte, was seine Frau von der Kündigung hielt. Er hatte keine Ahnung, was er ihm gesagt hätte, aber es wäre wahrscheinlich die Wahrheit gewesen.

"Ach ja, die Liebe." sagte der Alte. "So schön und so schmerzhaft. So kreierend und gleichzeitig so zerstörerisch."

Tim wusste nicht, was er darauf sagen sollte, also sagte er einfach nichts.

"Und planen Sie, eine Familie mit ihrer Frau zu gründen?" fragte der Alte.

"Wir haben einen kleinen Sohn." sagte Tim. "Er wird in einem Monat drei Jahre alt."

Der Alte strahlte Tim an. "Herzlichen Glückwunsch! Es gibt doch nichts Schöneres auf dieser Welt, als das Wunder, das wir Leben nennen. Und die Kleinen, die Kinder, die lassen uns dieses Wunder in seiner ganzen Pracht sehen."

Tim dachte an Marie und Luca. Dachte daran, wie sie jetzt gerade im Bett lagen, mit geschlossenen Augen, aneinander gekuschelt und unwissend, was er gerade tat. Wo die Wärme sie umschloss und sie geborgen hielt, geschützt vor der Kälte, die die Welt war.

Tim hörte die Autobahn, von der aus Motorengeräusche die Luft erfüllten. Er sah die Brücke schon, die ihn über die vorbeirasenden Wagen tragen würde.

"Wissen Sie, jedes Ende ist auch ein Anfang." sagte der Alte. "Und jeder Anfang auch ein Ende. Wenn wir ein Ende wählen, dann manchmal nur, um endlich weiter gehen zu können. Um endlich einen neuen Anfang zu finden. Der Schritt über die Ziellinie ist doch nur der Schritt hin zu einem neuen Rennen, zu einer neuen Herausforderung. Wenn Sie ein Ende gewählt haben, dann möchte ich sie nicht deswegen bemitleiden, sondern zu etwas Neuem gratulieren."

"Es wäre nur schön, wenn ich den Neubeginn schon von der Ziellinie aus sehen würde. Bisher ist da nur Nebel, Kälte und Sorge."

"Dann lass aus dem Nebel Licht, aus der Kälte Kraft und aus der Sorge Hoffnung werden. Wir suchen uns unsere Enden aus. Und wir suchen uns auch die Wege aus, die wir nach dem Ende wählen."

Sie waren an der Brücke angekommen und Tim ließ seine Finger über das Geländer fahren. Die Kälte schmerzte, das raue Metall fühlte sich auf seine eigene Weise traurig an. Aber es war eine Trauer, die Tim nachvollziehen konnte.

"Ich weiß nicht, warum mich das alles so fertig macht. Es ist doch nur meine Arbeit, die ich hier verliere. Und noch dazu eine Arbeit, die ich nicht mal gerne gemacht habe."

"Aber Tim, wann verstehst du endlich, dass es nicht deine Arbeit ist, die du heute beenden willst?"

Tim starrte den Alten mit hochgezogenen Brauen an.

"Wie bitte?"

"Sieh dir den Brief doch mal genauer an."

Tim hob den Brief verdutzt vor seine Augen. Er öffnete ihn behäbig und fummelte das zusammengefaltete Papier auseinander, seine Finger taub von der Kälte. Als er ihn aufklappte, sah er seine eigene, krakelige Handschrift. An Marie und Luca, meine größten Schätze. Stand dort. Heute geht vieles zu Ende. Aber das heißt nicht, dass ihr traurig sein müsst. Das Ende ist für mich da, für euch bleibt ein Neubeginn. Wenn ihr das lest, dann wisst ihr vielleicht schon, dass ich gefeuert wurde. Nicht nur das, sie werden euch von Dingen erzählen, die ich getan habe. Lasst das bitte nicht das Bild zerstören, das ihr von mir habt. Ich habe viele Fehler begangen und es tut mir leid. Es tut mir leid, dass ich euch hintergangen habe. Dass ich nie ehrlich war. Aber jemand wie ich findet immer irgendwann sein Ende. Und meines ist nun gekommen. Seid euch sicher, dass ich euch liebe, mehr liebe, als alles andere auf dieser Welt. Die Geschäfte, in die dich verwickelt war, waren gefährlich und haben viele Leben gekostet. Aber ich hinterlasse euch in Wohlstand und mit der Chance, ein gutes Leben zu führen. Es tut mir leid, zu welchem Preis ich euch dieses Leben schenke, aber es ist ein Preis, den wir zahlen müssen. Niemals hätte ich mir träumen lassen, Teil der Mafia zu werden. Niemals wollte ich euch verletzen. Es tut mir leid. Mein Herz ist gebrochen, weil ich eures gebrochen habe. Aber ihr sollt wissen, dass ich mit Liebe im Herzen gehe. Ihr wart immer der Sonnenschein, der mein dunkles Leben erleuchtet hat. Ihr wart die Stütze, die mich getragen hat. Und jetzt seid ihr die Liebe, die mir hilft, um Vergebung zu bitten. Darum bitte ich vor allem euch. Ich bitte euch, mir zu vergeben und meine Liebe zu akzeptieren. Ich weiß, dass das viel verlangt ist, aber es ist das Letzte, was mir bleibt. Ihr sollt wissen, dass ich für immer bei euch bin. Mein Ende mag gekommen sein, aber jedes Ende ist immer nur ein Anfang.
In Liebe, euer Tim

Tim ließ das Blatt sinken und starrte den alten Mann an. Tränen liefen seine Wangen hinunter. Der Mann lächelte nicht.

"Wer sind Sie?"

"Du solltest dir erst darüber im Klaren sein, wer du bist."

"Ich bin ein Monster." Tim schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte tief.

"Du hast viele Fehler begangen. Aber das heißt nicht, dass für dich nicht auch ein neuer Anfang wartet."

"Ich bin ein Mörder! Ich habe Menschen getötet, alles nur um reich zu werden. Ich habe keine Zukunft verdient. Ich habe es nicht verdient, die Welt weiter zu beschmutzen."

"Es gibt mehr als nur die eine Welt. Es gibt mehr, als nur ein Ende. Auf dieser Welt ist dein Schicksal besiegelt. Das heißt nicht, dass kein neuer Anfang auf dich wartet."

Als Tim die Hände von seinem Gesicht wegnahm, stand er am Geländer. Er blickte hinunter auf die Straße, auf den dunklen Asphalt, der so hart aussah, so unnachgiebig, so wenig verzeihend. Sein Fuß hob sich wie von alleine und er kletterte über das Geländer, als wäre es ein fremder Körper, in dem er wohnte. Er drehte sich um und der Alte stand direkt vor ihm.

"Wer bist du?" fragte er erneut.

"Du weißt, wer ich bin. Du kennst mich schon lange. Und du hast schon lange aufgehört, mich zu fürchten."

Tim schluckte. Er sah dem Alten direkt in die alten, traurigen, tiefschwarzen Augen.

"Dann tu es." sagte er.

Der Tod nickte ihm zu, hob seine langen weißen Finger und drückte gegen seine Brust. Kälte durchströmte Tim, Kälte und Dunkelheit, und er fiel. Wohin, das wusste er nicht, aber er fiel. Die Dunkelheit umschloss ihn. Das war es also. Das war sein Ende.

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Keules Profilbild
Keule Am 25.05.2021 um 16:48 Uhr
Herrn Moosecker kann ich nur beipflichten!
Toll!
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BerndMooseckers Profilbild
BerndMoosecker Am 29.10.2020 um 16:53 Uhr
Das hat mich jetzt total umgehauen. Eine gut gemachte Geschichte, mit mit viel Gefühl geschrieben und einem großen Finale.

Gruß Bernd
Macbys Profilbild
Macby (Autor)Am 29.10.2020 um 16:58 Uhr
Vielen Dank, das freut mich!
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Yukis Profilbild
Yuki Am 20.08.2019 um 13:30 Uhr
Oh wie was soll ich sagen. Ich gebe LiLover total recht. Ich habe sogar, die tiefe Stimme des alten Mannes gehört. Der Wahnsinn, weiter so.
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LitLovers Profilbild
LitLover Am 19.08.2019 um 11:03 Uhr
Jetzt bin ich ein bisschen bedrückt - und berührt. Du schaffst es, eine Stimmung entstehen zu lassen, die super zur Geschichte passt. Mit den kleinen Dingen, die du beschreibst, fühlt man sich voll in der Szene. Man fühlt sich abgeholt. Und schon geschrieben ist es auch! Ich freue mich, mehr von dir zu lesen. Dein Stil gefällt mir sehr!

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Sätze: 208
Wörter: 2.463
Zeichen: 13.502

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Diese Story wird neben Trauriges auch in den Genres Nachdenkliches, Schmerz & Trost und Angst gelistet.