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Annäherung an einen Fremden

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24.04.24 19:11
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

Wer meine Kurzgeschichten gelesen hat, hat vielleicht auch meine Schriften gelesen, in denen ich mich mit dem Schicksal meiner Eltern beschäftige. Alles fing damit an, dass ich im Nachlass meiner Mutter ein Bündel Briefe fand. Fast alle waren von meinem Vater an meine Mutter gerichtet, bis auf die verschlossenen Umschläge, deren Adressat mein Vater war. Diese Briefe sind wohl zurückgekommen, da sie nicht mehr zustellbar waren. Soweit die Vorgeschichte.

Meinen Vater habe ich nur einmal in meinem Leben gesehen. Nach meiner Geburt war mein Vater nur einmal auf Heimaturlaub. Ich war damals ein Jahr alt, somit habe ich keine Erinnerung an ihn. Lange Zeit gab es in meiner Familie ein Foto im Format 6 x 6 Zentimeter. Es zeigt meinen Vater, der mich auf den Schultern trägt und dabei festhält. Das Foto ist irgendwann im Laufe der Jahrzehnte verloren gegangen, aber ich erinnere mich, dass wir beide einen zufriedenen Eindruck darauf machten. Damit endet eigentlich schon die Geschichte, wären da nicht die Briefe.

Diejenigen der Briefe, die mein Vater nach seiner Rückkehr an die Ostfront geschrieben hat, relativieren das Bild, das ich mir von ihm gemacht habe. Es sind nur vier Briefe, in denen es seine Gefühle nach der Abreise schildern. Im ersten Brief beschreibt er ausführlich den Verlauf der Reise. Von daher weiß ich, dass meine Mutter ihn auf seiner letzten Reise bis Duisburg begleitet hat. Der zweite Brief handelt von seiner Verärgerung über das Hineinregieren seiner Schwiegermutter in die noch junge Ehe meiner Eltern und er kündigt an, er würde ihr zu diesem Thema einen bösen Brief schreiben (der Brief wurde nie geschrieben). Seine beiden weiteren Briefe sind dem Verhältnis zu meiner Mutter und auch ihrem Verhältnis zu mir gewidmet. Er meinte, es sei dringend erforderlich, dass ich einen Bruder bekäme. Er drückte das freundlicher aus, als ich es im vorherigen Satz dargestellt habe. Wie er darauf kam, dass aus der Vereinigung zweier Menschen zwingend Jungen entstehen, hätte ich ihn gerne einmal gefragt, aber wie alle Fragen, die ich an ihn hätte, bleibt auch diese Frage auf ewig unbeantwortet.

Die Stelle seines letzten Briefes, die sich direkt mit mir beschäftigt, finde ich einigermaßen verstörend. Da ich mich während seiner Anwesenheit wohl vor den Kaninchen seiner Eltern gefürchtet hatte, erteilte er meiner Mutter den Rat, mich einmal zu den Kaninchen in den Stall zu sperren. Vielleicht war man damals bei der Kindererziehung rustikaler, als wir es bei der Erziehung unserer eigenen Tochter waren. Aber ich kann meinen Vater beruhigen. Die Angst vor dem Kleintier hat sich schnell verloren, auch ohne seine Eingriffe in meine Erziehung. Da wir, bis ich ungefähr zehn Jahre alt war, mit den, auf dem Hinterhof gehaltenen Kaninchen und Hühnern lebten, wusste ich bereits im Kindergartenalter, dass ich das Kaninchen, das als Weihnachtsbraten auf den Tisch kam, am Vortag noch gestreichelt hatte.

Diese Zeilen sind als Antwort auf eine Forumsdiskussion mit einer Freundin entstanden. In der Diskussion ging es um die Herkunft der Vornamen. Mein Vorname ist die Kurzform von Bernhard. Damit brauche ich mich eigentlich nicht zu beschäftigen, denn in meiner Geburtsurkunde steht mein Name nur in der Kurzform. Aber Bernhard, so erklärte ich dort, kommt aus dem Althochdeutschen und bedeutet bärenstark oder kühn. Somit bin ich der Meinung, mein Name ist ein Fehlgriff meiner Eltern, denn ich bin weder stark noch kühn. Laut meiner Mutter wurde der Namen durch meinen Vater per Telegramm von Russland aus festgelegt. Tut mir leid, die Erwartungen meines Vaters konnte ich nicht erfüllen; und das ist auch gut so. Als ich das in einem Beitrag so darlegte, widersprach meine Freundin heftig. Sie war der Meinung, meine große Stärke läge in meiner Ruhe und Geduld. Ich weiß nur eins, meine Ruhe bringt auch Nachteile mit sich (meine Geduld hat vielleicht auch Nachteile). Das war zum Beispiel immer dann der Fall, wenn bei meiner Liebe der Geduldsfaden riss. Ihr Geduldsfaden riss meist dann, wenn sie den Eindruck hatte, ich hätte mich lange genug in Ruhe und Geduld geübt. Das ist nicht böse gemeint, ich liebte ihre Gefühlsausbrüche. Sie waren für mich in der Partnerschaft so etwas, wie das Salz in der Suppe. Die langjährige Partnerschaft zweier mit Geduld gesegneter Menschen kann ich mir im Übrigen, als ziemlich öde vorstellen. Das mag ein Vorurteil von mir sein, denn ich habe noch nie in einer Beziehung dieser Art gelebt. Ich habe also keine Möglichkeit des Vergleichs. Vielleicht ist es ganz anders, als ich es mir vorstelle und zwei Menschen, die von ihrem Naturell her im Einklang leben, haben so etwas, wie ein Leben im siebenten Himmel. Um eigene Studien dieser Art anzustellen, bin ich vielleicht ungeeignet und wahrscheinlich auch zu alt. Mich reizt nun einmal die Widerrede, auch in der Partnerschaft – und laut werden, darf es dabei auch.

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Sillys Profilbild
Silly Am 21.09.2022 um 23:39 Uhr
Lieber Bernd.

Stark zu sein, bedeutet vieles und oft nicht das, was manche Menschen denken... denn auch der Bär hat ein Herz.

Liebe Grüße
Silly
BerndMooseckers Profilbild
BerndMoosecker (Autor)Am 27.10.2022 um 0:49 Uhr
@Schriftstellerin Hallo Schriftstellerin,
Deine Antwort auf mein kleines Werk hat mich erschüttert - ein Vater, der der Tochter die Tür vor den Nase zuschlägt, eine Mutter, die ihren Frust am Kind auslässt.

Das sind Dinge, von denen ich sage, geht gar nicht.

Gewiss, Eltern machen nie alles richtig, auch meine Liebe und ich haben wohl mehr Fehler als Lichtblicke in die Kindeserziehung eingebaut. Das ist menschlich und normal. Aber das Produkt all dieser Fehler ist eine in sich gefestigte Frau, die mit mir liebevoll und mit großem Respekt umgeht ... und mir auf den Wecker geht, wenn sie ich zu sehr um das Wohlergehen eines alten Vaters kümmert.

Ich glaube einfach, umgekehrt ist das genau so, Vaters Sorgen um ihr Wohl, findet sie sicher ätzend.
Herzliche Grüße
Bernd
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Schriftstellerins Profilbild
Schriftstellerin Am 26.10.2022 um 15:46 Uhr
@BerndMoosecker Hallo Bernd,
da haben wir ja etwas gemeinsam. Auch ich kenne meinen Vater nicht. Er war, wie Deiner, im zweiten Weltkrieg, ist aber 45 entlassen worden, hat seine Frau geheiratet, drei Kinder bekommen und war Lehrer. Eines Tages kam meine Mutter, als junge Lehrerin, an seine Schule, frisch von der Uni, und er kümmerte sich sehr um sie. So bin ich entstanden. Er blieb bei seiner Familie. Bei mir hat er sich nie vorgestellt.

Aber ich wollte ihn mal kennenlernen, als ich schon über zwanzig war. Er hat mir regelrecht die Tür vor der Nase zugeschlagen, aber ich hatte auch noch nie einen anderen Menschen gesehen, der mir so ähnlich sah.

Mein Vater war ein Vakuum. Wenn meine Mutter nicht zuhause war, wühlte ich in allen möglichen Verstecken herum. Und wirklich wurden meine Mühen belohnt. Eines Tages fand ich eine rote Ledertasche, versteckt zwischen der Wäsche.

Ein gewisser Karl hatte Briefe an meine Mutter gerichtet. Mir wurde klar, dass waren die Briefe meines Vaters.
Ich kämpfte mich durch die extrem unleserliche Schrift durch, hatte aber immer ein flaues Gefühl, weil ich mich in das Intimleben meiner Mutter einmischte. Ich beruhigte mein schlechtes Gewissen damit, dass ich mir sagte, dass diese Briefe ja das Einzige sind, was ich von meinem Vater habe.

Es ging viel um die landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, auf dem Dorf, wo mein Vater lebte, wie die Ernte ausgefallen ist und um ehemalige Arbeitskollegen meiner Mutter. Eigentlich ziemlich langweilig. Er schrieb die Briefe meist während seiner Nachtschichten in einem Jugendwerkhof, wohin sie ihn strafversetzt hatten, wegen dem Verhältnis mit meiner Mutter. Zu Hause konnte er sie ja nicht schreiben. Ich hätte gern gewußt, wie er aussieht.

Auch da trugen meine Wühltätigkeiten Früchte. Ich fand, ebenfalls im Wäscheschrank, ein kleines Fotoalbum. Auf fast allen Fotos war ein schwarzhaariger Mann drauf, meist neben einem Motorroller. Ich dachte mir mein Teil und starrte die Fotos lange an.
Die letzte Postkarte, die ich von meinem Vater fand, ist geschrieben worden, als ich sechs Jahre alt war. Danach kam keine Post mehr von ihm, wie mir später meine Mutter auch sagte.

Ich habe mal im „Spiegel“ über alleinerziehende Mütter, die ihre Kinder misshandeln, etwas gelesen. Ein Psychologe schrieb: Meist fangen die Mißhandlungen an, wenn der Vater völlig den Kontakt abbricht.
Leider war es bei mir genauso. Als er sich nicht mehr meldete, wollte sie wohl ihren Frust an mir auslassen. zu viel Zeichen
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BerndMooseckers Profilbild
BerndMoosecker (Autor)Am 22.09.2022 um 0:25 Uhr
Liebe Silly,
danke für Deinen Kommentar.

Du hast recht. Nur weiß ich nicht, was Menschen zu dieser schrecklichen Zeit unter stark oder kühn verstanden haben.

Ein Mann telegrafiert von der Ostfront aus seiner Frau, wie sein Sohn heißen soll und wählt einen stark wirkenden Namen. Was hat er sich vorgestellt, wie ich mich entwickeln werde? Für mich liegt all das im Nebel meines Unwissens. Ich versuche zu deuten und komme zu keinem Ergebnis. Ich diskutiere diese Vorgänge mit meiner Tochter, kann meine Gefühle nicht einordnen. Viele Seiten Papier habe ich diesem Teil meiner Vergangenheit in den letzten Jahren gewidmet, ich werde die Rätsel der Vergangenheit nicht lösen können.

Liebe Grüße
Bernd
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Autor

BerndMooseckers Profilbild BerndMoosecker

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Sätze: 44
Wörter: 827
Zeichen: 4.882

Kurzbeschreibung

Vieles aus meiner Abstammung verschwimmt für mich im Nebel des Unwissens. Immer wieder versuche ich den Nebel durch Schreiben zu lichten - hier ein weiterer Versuch.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Nachdenkliches auch im Genre Familie gelistet.

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