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Minus sieben

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13.09.22 16:19
16 Ab 16 Jahren
Fertiggestellt

„Autsch! Verdammt!“
Heikes Fluch reißt mich aus meinen Grübeleien.
„Alles in Ordnung?“, rufe ich zu ihr hinüber und halte das Messer unter den Wasserhahn. Die Hände an meiner Jeans abwischend, gehe ich zum Tresen, an dem Heike die Frühstücksreste neu arrangiert.
„Ja, alles gut“, nuschelt sie, an ihrem Fingerknöchel saugend. „Elende Biester!“
Ich folge ihrem Blick und sehe mehrere Wespen, die zwischen Brötchenhälften, Kuchenteilchen und Obstschüsseln herumschwirren.
„Mein dritter Stich diese Woche. Die Viecher werden immer aggressiver.“
Das glaube ich nicht, aber das behalte ich für mich. Heike regt sich schnell auf. Es ist besser, ihr dann nicht zu widersprechen. Also lasse ich sie zetern und gehe zum Kühlschrank, um eine halbe Zwiebel zu holen.
Als ich mich umdrehe, steht Heike hinter mir, den Finger im Mund.
Dankbar presst sie die Zwiebel auf den Stich, der bereits anschwillt.
„Im Ernst“, sagt sie, noch immer verärgert. „Diese Scheißviecher machen mich verrückt. Hab schon wieder ein neues Nest im Garten entdeckt. Und Ameisen. Ohne Ende Ameisen. Manchmal denke ich, die höhlen den Garten von unten aus. Eines Tages stürzt alles zusammen.“
„Backpulver. Hat meine Oma genommen.“
„Darf man ja alles nicht mehr. Artenschutz und so.“
„Macht trotzdem jeder.“
„Wahrscheinlich. Mist! Wird ganz schön dick.“
Ich zwinkere ihr zu. „Wenn du auch noch ausfällst, müssen wir zumachen.“
Sie grinst. „Nee, nee, keine Chance.“
Ich hebe die Achseln, spiele die Resignierte. „Einen Versuch war es wert.“
„Was willst du denn bei der Hitze zu Hause? Hier ist es wenigstens kühl.“
Da hat sie recht. In meiner Zweizimmerbude staut sich seit Tagen die Wärme, obwohl ich unten wohne und mich an alle Empfehlungen halte. Fenster zu, Jalousien runter, nur nachts lüften, nasses Bettlaken vor dem Ventilator. Hier ist es zum Aushalten. Die Raststätte ist vor ein paar Jahren renoviert worden, was in puncto Attraktivität nicht viel gebracht hat, das Arbeiten im Sommer jedoch angenehmer macht. Es gibt eine Klimadecke und große Ventilatoren. Außerdem sind die Scheiben abgedunkelt, sodass die Sonne die Gäste nicht brät, und sie haben eine neuartige Verkleidung über den Außenwänden montiert. Das Flachdach besteht zur Hälfte aus Solarpaneelen, zur Hälfte aus Gras. Die Bepflanzung soll für mehr Kühlung sorgen und Insekten eine Heimat bieten.
„Und viel zu tun ist ja auch nicht gerade“, fährt Heike fort. „Apropos: Wie weit bist du mit dem Mittag?“
„In Arbeit.“
„Denk dran: Nicht zu viel auf einmal. Wir bringen etappenweise raus, so wie letzte Woche. Kannst sogar noch kleinere Platten machen. Und nicht so viel Warmes! Bei der Demse essen die Leute eh kaum was.“
Ich nicke in Richtung Arbeitsplatte, wo sich Melonenschalen und Ananasstümpfe stapeln. „Ich schnippele jede Menge Obst. Gregor hat extra Eis bestellt und wir haben Getränke ohne Ende.“
„Prima“, sagt Heike, strahlt mich an und wirft die Zwiebel in den Müll. „Endlich mal jemand mit Verstand und Eigeninitiative.“ Vertraulich neigt sie sich zu mir. „Shilan, du und ich könnten den Laden auch allein wuppen.“
„Mit Gregor als Manager?“
Sie winkt ab. „Der sitzt im Büro vom Chef und schaukelt sich die Eier. Zockt irgendwelche Spiele.“
Mein Eindruck von unserem schlaksigen Ersatz-Chef ist ein anderer, aber ich sage nichts. „Was ist mit Filimon?“, frage ich stattdessen. „Der macht sich doch gut.“
Heike wiegt ihren Kopf hin und her. Filimon stammt aus Eritrea, ist die letzten fünf Jahre hier zur Schule gegangen, hat kürzlich seinen MSA bestanden und überlegt, was er mit seinem Leben anstellen soll. Weiterhin Toiletten in einer Raststätte zu putzen, steht bestimmt nicht sehr weit oben in der Zukunftsplanung.
„Ja“, sagt Heike schließlich gedehnt. „Der scheint in Ordnung zu sein. Ich werde mal weitermachen. Hoffentlich sticht mich nicht noch so ein Biest.“
„Ich werde wieder die Spezialsirupmischung ansetzen.“
„Mach das. Und lass die Abfälle nicht zu lange liegen. Sahin oder Alex sollen sie rausbringen.“
„Das kann ich selbst.“
„Nee, lass die Jungs mal ackern für ihr Geld. Wo sind die überhaupt?“
„Sahin putzt die Zimmer, Alex wischt hinten. Shilan schrubbt die Tische.“
Heike brabbelt etwas, das ich nicht verstehe, und ich wende mich wieder meiner Arbeit zu.


Mein Küchenmesser sticht in die Verpackungen und teilt sie in Hälften. Ich fingere Würstchen, Buletten, Pommes und Hähnchenschnitzel heraus und sortiere sie in verschiedene Container. Eine hirntötende Arbeit, die mir mehr Gelegenheit zum Grübeln lässt, als mir wahrscheinlich guttut, wie vieles hier. Immerhin gibt es wieder einen Rhythmus in meinem Leben, selbst wenn es nur das Pendeln zwischen hier und Rostock ist. Meine Wohnung gefällt mir inzwischen, genauso wie die Dreiviertelstunde Fahrt zur Arbeit im eigenen Auto, statt in überfüllten Stadtbahnen. Mittlerweile habe ich sogar Lieblingsstellen an der Ostsee und kann die Wochenenden wieder genießen.
Ein Insekt klatscht gegen die Fensterscheibe vor mir und reißt mich aus meinen Gedanken. Das Tierchen hinterlässt einen schmierigen Fleck.
Neben mir stapeln sich aufgestochene Verpackungen, die ich ineinander presse, bevor ich sie zusammen mit Plastikschalen und klebrigen Folien in eine Mülltüte werfe.
„Die kann auch weg“, sage ich zu Alex, der in diesem Augenblick von seiner Mülltour zurückkehrt und sich mit angesäuertem Gesicht die Hände an der Jeans abwischt. Dann verknotet er die Tüte und sieht sich in der Küche um. „Noch mehr?“
„Erst mal nicht.“
„Puh, gut. Ist eine Affenhitze da draußen und rund um die Tonnen stinkt es wie die Hölle.“
„Kann ich mir vorstellen.“
„Fliegenschwärme, als würde irgendwo eine Leiche verfaulen.“ Ekel steht in seinem pickligen Gesicht. Alex verdeckt die Mitesser sorgfältig mit Cremes und Make-up und trägt die Haare in die Stirn gekämmt. Jetzt sind Gesicht und Haare mit einer Schweißschicht bedeckt, obwohl er gerade mal zehn Minuten draußen war. Ich überlege, ob ich ihm sagen soll, dass die wirren Strähnen besser aussehen als der mädchenhafte Pony, lasse es jedoch. Der Junge ist achtzehn, kurz vor dem Abitur, arbeitet hier seinen Führerschein ab und ist wahrscheinlich schwul, so wie er Sahin und manche Gäste anhimmelt. Der hat genug mit sich zu tun.
„Fliegen tun nichts“, beruhige ich ihn.
„Weiß ich. Aber die schwirren in Riesenschwärmen über den kompletten Parkplatz, nicht nur vor den Tonnen.“
„Habe ich gestern auch gesehen. Als ich von Nienhagen zurückkam. Ein Heer von Scheißhausfliegen rund um die Mülltonnen. Und in meiner Küche machen sich Fruchtfliegen breit.“
„Bei uns zu Hause auch. Meine Mutter wird schon hysterisch. Wir haben überall diese Fliegenfänger hängen.“
Fliegenfänger, notiere ich auf meinem mentalen Einkaufszettel.
Es klatscht wieder und ein zermatschtes Insekt rutscht die Scheibe herunter.
„Widerlich“, sagt Alex. „Erinnert mich dran, dass ich meine Windschutzscheibe putzen muss, wenn ich nach Hause fahre.“ Er atmet tief ein und aus, bevor er den Plastiksack schultert. „Bis gleich.“


Beim Hinausgehen stößt er an Shilan, entschuldigt sich höflich und macht ihr und ihrem Putzeimer Platz. Shilan lächelt ihn an, bedankt sich und trägt ihren Eimer zum Ausguss. Der ist eigentlich für die riesigen Pfannen und Töpfe reserviert und nicht für Schmutzwasser, doch wir sehen das gelassen. Shilan strahlt auch mich an, wuchtet den Eimer ins Becken und schüttet ihn aus. Teefarbene Brühe strömt in das Beckenloch.
Während sie am Becken hantiert, halbiere ich Äpfel und Orangen, um sie später in die Saftpresse zu stecken.
„Boah, schau dir das mal an“, sagt Shilan mit ihrer sanften Stimme.
Ich trete neben sie und äuge in das Becken. Im Schmutzwasser schwimmen unzählige Insekten und Käfer.
„Die lagen alle auf den Tischen?“, frage ich.
„Überall kleben die. Am meisten auf den Fensterbrettern. In den Blumenkübeln liegen noch mehr. Ich überlege, wie ich die wegkriege.“
„Sauger?“, schlage ich vor.
„Der nimmt das ganze Gekrümel mit. Dieses Substrat-Zeug, das wir statt Erde haben.“
„Davon haben wir Säcke voll im Keller. Frag Gregor, ob wir hinterher was nachfüllen können. Soll ich dir helfen?“
„Hast du hier nichts zu tun?“
Ich schaue mich um. „Ich decke noch die Lebensmittel ab, dann ist erst mal alles fertig. So richtig kochen darf ich ja nicht. Geht nichts raus bei der Hitze.“
„Kein Tagesgericht heute?“
„Nudeln mit Tomatensoße. Kulinarische Spitzenklasse.“
Wir brechen beide in Gelächter aus. „Mit Jagdwurst?“, fragt Shilan.
„Ein Topf mit, einer ohne, wie immer. Montagsgericht.“
Wieder lacht Shilan ihr helles Lachen, das irgendwie ansteckend ist. Ich freue mich, wenn ich sie aufheitere. Sie hat dieses unwiderstehlich sonnige Gemüt, das einem die Seele streichelt.
„Wenn du magst, hilf mir gern“, sagt sie jetzt, spült den Eimer aus und stülpt ihn um, breitet nasse Lappen und Schwämmchen auf dem Beckenrand aus.
„Was macht die Semesterarbeit?“, erkundige ich mich. Shilan studiert Physik und schreibt eine Facharbeit zu einem Thema, an dessen Überschrift ich bereits gescheitert bin.
„Am Ende der Woche bin ich fertig“, behauptet sie, ohne zu zögern.
„Cool. Ich habe immer alles vor mir hergeschoben.“
„Heute und morgen Fazit. Mittwoch Überarbeitung. Donnerstag Literaturliste. Freitag Finalcheck und ab ins Copycenter. Et voilà!“ Wie eine Primaballerina breitet sie die Arme aus und deutet eine Pirouette an.
„Klingt nach einem Plan.“
„Ja, Soll erfüllt.“
„Absolut. Und danach? Machst du Urlaub?“
„Erst im September.“
„In der Heimat?“
Shilans rundes Gesicht verdüstert sich und sie stößt ein Seufzen aus. „Nein, meine Eltern wollen nicht. Im Iran gehört uns nichts mehr und die komplette Familie ist weg von dort. Wir besuchen meine Tante in Belgien und eine meiner Schwestern in Hannover. Nicht so spannend.“


Alex kehrt zurück, hält die Hände unter den Wasserhahn des kleinen Beckens. Er sieht noch verschwitzter aus als eben und keucht, als wäre er gerannt.
„Alles klar?“, fragt Shilan.
„Wespen. Jede Menge. Sie belagern die Mülltonnen. Plus Millionen tote Tiere auf dem Boden. Es knackt, wenn man über die läuft, und manchmal knallt es wie bei diesen Pufftüten.“
Verständnislos sehen Shilan und ich uns an.
„Na, die Verpackungen mit den Blasen, die man platzen lassen kann. So hört sich das an. Als wenn die Viecher platzen. Lauter platzende Insekten. So was habe ich noch nie erlebt. - Bitte, Ines, kann Sahin den restlichen Müll rausbringen?“ Er sieht aus, als würde er jeden Moment anfangen zu heulen.
„Äh, klar“, sage ich und werfe Shilan einen stummen Blick zu.
Diese formt mit den Lippen das Wort Allergie und tätschelt Alex den schmalen Rücken.
Witzig, dass er mich um Erlaubnis fragt. Er war schon hier, als ich anfing. Alle waren vor mir hier.
„Solche Viecher!“ Aufgeregt deutet Alex die Größe von Libellen an.
„Vielleicht Hornissen?“, mutmaßt Shilan.
„Oh Gott!“ Alex erbleicht. Augenscheinlich hat er wirklich Schiss.
Es klatscht zum dritten Mal gegen die Scheibe und wieder sickert etwas Schillerndes am Glas hinab. Alex sieht aus, als würde er zusammenbrechen.
„Trink was“, fordert Shilan ihn auf. Sie hat diese mütterliche Ader, scheint immer zu wissen, was Menschen gerade guttut.
Alex nickt mit Grabesmiene und schleicht zum Kühlschrank.
„Mach ein Päuschen“, entscheide ich. „Danach suchst du dir was, wo keine Lebensmittel sind. Sag am besten Sahin, dass du das Putzen im Anbau übernimmst. Lass dich von ihm einweisen. Sahin kann draußen fegen und aufräumen.“
„Okay“, haucht Alex.
Weichei, will ich Shilan zuflüstern, lasse es dann aber, weil Shilan ihm ein so ehrlich aufmunterndes Lächeln zuwirft, dass ich mich schlecht fühle.


Die Staubsauger sind widerspenstige Biester, die aussehen wie die Dalek aus Doctor Who.
Ich ziehe meinen Sauger am Schlauch den Gang entlang zum Gastraum, während Shilan ihr Ungetüm trägt und dabei leise schnauft. Ihr dichtes, dunkles Haar, gebändigt in einen eher nachlässigen Pferdeschwanz, wirkt zerzauster als sonst.
„Warum trägst du kein Kopftuch?“, frage ich.
„Bin keine Muslima.“
„Ach?“ Vor Überraschung bleibe ich stehen. „Seid ihr nicht der islamische Staat überhaupt?“
„Wir sind Kurden“, erklärt sie, ohne verärgert zu wirken. „Jesiden.“
Ich krame in meinem Gedächtnis, werde jedoch nicht fündig.
Shilan lacht, als sie meine gerunzelte Stirn sieht. „Google es.“
Im Gastraum sitzt genau ein Mann, wir müssen also nicht allzu viel Rücksicht nehmen, zumal wir den Mann kennen.
Er heißt Sven, ist Fernfahrer und kommt mehrmals im Monat hier vorbei. In regenbogenfarbenem Unterhemd, kurzer Hose und Badelatschen thront er breitbeinig in der Nähe des Ganges, schlürft seinen Kaffee und wässeriges Rührei, hebt kaum den Blick von seiner Zeitschrift. Ab und an kratzt er sich zwischen den Beinen oder wedelt eine Wespe weg. Warum er immer wieder hier Rast macht, erschließt sich mir nicht. Diese Raststätte ist das Letzte aus der Kanne, regelmäßig unter den bundesweiten Worst Ten. Spitzenwerte bei den Negativbewertungen, die Hasi uns bei Teamtreffen vorliest und von Gregor in den Kommentaren diverser Webseiten kommentieren lässt.
Und Fahrer wie Sven bekommen das volle Programm: schlechtes Essen, vergilbte Toiletten, verkalkte Kaltwasserduschen, hellhörige Zimmer, wenn er mal vom Truck runter muss. Einzig die Preise sind in Ordnung. Und der Kaffee. Der Kaffee ist sogar richtig gut: dickflüssig, heiß und stark. Nicht der aus den Automaten, versteht sich, sondern der, den Shilan eigenhändig für uns und für Stammgäste brüht.
„Warum ist er noch hier?“, raune ich Shilan zu, als wir unsere Daleks in einer Ecke möglichst weit weg von dem stämmigen Mann in Betrieb nehmen und mit dem Schlauchende Insektenleichen, Spinnweben und Wollmäuse aus den Blumentöpfen und von den Pflanzen saugen.
„Er hat ein Verhältnis mit Heike“, stellt Shilan unverblümt fest und biegt ihren rundlichen Körper um eine Pflanzeninsel herum, um auch die kleinste Nische zu erwischen.
Mein Blick wandert zwischen Sven und der am Tresen hantierenden Heike hin und her und ich imitiere ein anerkennendes Pfeifen. „Schau an.“
„Musst du mal drauf achten. Am Wochenende vor dem Schichtwechsel mietet er im Anbau ein Zimmer. Von Freitagabend bis Montagmorgen.“
Ich puste ein paar Fliegen vor meinem Gesicht weg. „Bleibt sie das Wochenende hier?“
„Nee. Aber der Freitag endet sehr spät und der Montag beginnt für Heike früher, als sie eigentlich muss. Danach frühstückt er oft länger. Je nach Auftrag.“
Wieder schweift mein Blick über das heimliche Pärchen, das sich nicht anschaut, nicht einmal verstohlen. Sven scheint völlig in der Zeitschrift versunken, nippt an seinem Kaffee, verscheucht eine Wespe, die auf dem Tassenrand sitzt; Heike schiebt Brötchenplatten in der Auslage hin und her, füllt Schokoriegel und Zigaretten nach, putzt den Kaffeeautomaten.
Erschrocken zucke ich zusammen, als Sven plötzlich mit der Faust auf den Tisch schlägt. „Verdammtes Mistviech“, sagt er in schönster Berliner Mundart und wischt das Tier vom Tisch. „Die werden immer frecher“, ruft er dann Heike zu, die in ihrer Betriebsamkeit innegehalten hat und Sven anstarrt.
„Mach vorsichtig. Mich hat schon eine gestochen.“
„Ich hab nur Mückenstiche“, brummelt er. „Haben mich die halbe Nacht wachgehalten. Ich hasse es, wenn sie neben meinen Ohren sirren.“
Jeder hasst das, denke ich. Deshalb habe ich Gaze vor all meinen Fenstern.
„Wir haben doch Fliegengitter“, sagt Heike, als hätte sie meine Gedanken gehört.“
„Da sind Löcher drin“, entgegnet Sven.
„Logo. Es sind Gitter.“
„Haha. Richtige Löcher. Die Viecher schlüpfen durch.“
„Gregor kontrolliert die Zimmer täglich. Das hätten wir bemerkt.“
Sven rührt mit einem Wurstfinger in seiner Kaffeetasse, bevor er einen Schluck nimmt. „Vielleicht fressen die Mücken sich durch die Gaze.“
„Ach Quatsch“, sagt Heike laut, wirkt aber verunsichert, bis sich auf Svens vierschrötigem Gesicht ein Grinsen malt.
Heike streckt ihm die Zunge heraus und hebt den Mittelfinger.
Sven will etwas erwidern, doch in diesem Moment klatschen mehrere Insekten gegen die große, verdunkelte Scheibe wie eine Schwadron lebensmüder Soldaten. Wir alle erstarren, dann stellt Shilan ihren Staubsauger aus und geht nachsehen.
„Igitt“, sagt sie mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination. „Das sind Wespen oder Bienen. Ich kann die nicht auseinanderhalten.“
„Wespen“, grummelt Sven. „Scheißviecher.“
Shilan wendet sich ihm zu. „Rede nicht so über sie. Die sind sensibel.“
„Spinnst du?“
„Du hast eine von ihrer Familie erschlagen. Das da sind ihre großen Brüder, die zu Hilfe kommen.“
Sie gluckert über ihren eigenen Scherz und sieht zu Heike, die beifällig den Daumen hebt.
Ich lache nicht mit. Irgendwas an Shilans Bemerkung hinterlässt einen faden Geschmack an meinem Gaumen.
Ich konzentriere mich wieder aufs Saugen, blende das Geschnatter der anderen aus, entdecke kleine Risse zwischen Fensterbrett und Scheibe, winzige Löcher, ganz ähnlich denen der Ameisen, die man manchmal zwischen Pflastersteinen sehen kann. Krabbeln Ameisen hier durch? Ich rutsche näher heran, sehe aber nichts, beuge mich vor und linse aus dem Fenster. Auch nichts direkt vor der Scheibe. Ich ertappe mich dabei, wie ich erleichtert ausatme.
„Pass auf!“ Shilans Warnung lässt meinen Kopf hochrucken.
Auf Svens Wange sitzt eine Wespe. Er schreit kurz auf und schlägt zu. Das Tierchen fällt auf den Tisch, zappelt und verendet.
„Shit“, schreien Sven und Shilan wie aus einem Mund.
Heike kommt vom Tresen gelaufen, beugt sich über Sven. „Geh das kühlen, na los! Das schwillt schon an.“
Mit einem genervten Blick, aber ohne Einspruch, erhebt sich Sven und schlurft in Badelatschen aus dem Gastraum, gefolgt von Shilan und ihrem Helfersyndrom und einer aufgeregten Heike.
Alex erscheint in der Küchentür, glotzt uns alle an und verschwindet in Richtung Anbau.
Ich schiebe mich an Svens Tisch heran, betrachte die toten Kamikaze-Wespen an der Scheibe und das zermatschte Exemplar auf der Tischplatte. Mein Blick schwenkt zu Svens Tasse. Im letzten Rest Kaffee schwimmt zappelnd eine weitere Wespe. Ich denke kurz an Shilans Spruch von den großen Brüdern. Dann senke ich die Staubsaugerdüse in den Becher und anschließend auf den Tisch.

Die Minuten, die ich im Gastraum allein bin, nutze ich zum Verschnaufen. Das Absaugen der Blumentöpfe und Pflanzenkübel hat mich ins Schwitzen gebracht, obwohl hier drinnen angenehme Temperaturen herrschen. Ich beneide Alex und Sahin nicht, die im Anbau die Zimmer putzen. Der ältere Gebäudeteil wurde nicht renoviert und ist nach Aussage Sahins stickig nach den Hitzetagen.
„Boah, habt ihr mal rausgeguckt? Sieht aus wie Gewitter, Digga.“
Sahin sieht aus wie ein Möchtegernrapper und redet auch so. Mit zu wenigen Artikeln und Präpositionen, zu vielen sch und falschen Endungen. Ich hasse es und er weiß das. Deswegen übertreibt er es gern mit Kanak Sprak. Übertreibung ist Teil der Attitüde, des Auftritts.
Er realisiert, dass außer mir niemand da ist, und stutzt. „Was los, Mann?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, läuft er an mir vorbei zum Fenster und stupst mit dem Finger dagegen. „Guck, Mann! Guck den Himmel!“
Ich tue ihm den Gefallen. Durch die getönte Scheibe sieht man Farben nicht so gut, aber ich erkenne deutlich die Zimtfärbung des Himmels.
„Und?“, fragt er mich, während er ungeduldig auf den Sohlen seiner strahlendweißen Markenturnschuhe wippt. Wahrscheinlich putzt er sie mit Zahnpasta. Den Tipp habe ich mal auf YouTube gesehen.
„Tja, dunkel.“
„Das alles, Mann? Dunkel, ey.“ Kopfschüttelnd sieht er mich an. Schöne Augen hat er, das muss ich ihm lassen. Samtig braun, geschwungene Wimpern, perfekt getrimmte Brauen. Das alles umrahmt von olivfarbener, pickelfreier Haut. Er fuchtelt mit dem Arm, um den folgenden Ausführungen mehr Nachdruck zu verleihen. „Musst du mal in echt sehen. Also draußen. Voll schwarz, ey. Apokalypse.“
„Schon wieder.“
„Hä?“
„Apokalypsen. Lese ich jeden Tag in der Zeitung, seit Jahren schon.“ Ein Streitpunkt zwischen Ben und mir. Ich, die ich alles abwinke, er, der mir jede schlechte Nachricht unter die Nase reibt, deklariert, doziert, diskutiert. „Hauptsächlich Klimawandel. Hitze. Schwüle. Unwetter. Plagen aller Art. Willkommen auf der Erde.“ Ich packe den Sauger, um Sahin zu signalisieren, dass unser Plausch beendet ist, aber er lässt mich nicht gehen.
„Wo sind die anderen?“
„Auf dem Klo.“
„Was los? Hat der kleine Fili ein Problem?“ Sein glatt rasiertes, hübsches Gesicht verzieht sich zu einem Grinsen, doch es ist nicht gehässig wie die Bemerkungen, die Heike manchmal fallen lässt. Negerküsschen, Pharao, Schwarzarbeiter. Oft lachen dann die Fernfahrer und Arbeiter, und hin und wieder sogar die Polizisten. Auch Filimon lächelt, lächelt die Kommentare und Anspielungen auf faule und unwissende Afrikaner einfach fort.
Ich gebe Sahin eine Kurzzusammenfassung des Wespenvorfalls.
Er schaut nachdenklich. „Der Schwuli hat auch schon von den Stechviechern erzählt. Dem ging so die Muffe, dass er fast geheult hat. Baby, ey.“
„Hast du ihm gezeigt, was er machen soll?“
„Klar, Mann. Ist nur noch ein Zimmer.“
Mir fällt ein, was Sven von dem Fliegengitter berichtet hat.
„Hab ich gesehen. Kleine Mini-Löcher. Nix Dolles.“
„Aber wenn Mücken durchkommen, können wir uns die Gitter sparen. Gregor muss sie ersetzen oder reparieren.“
„Sag ihm doch.“
Sahins Interesse erlischt. Er fischt sein Handy aus der Arschtasche und tippt darauf herum, hört ein paar Sprachnachrichten ab. Es scheint ihm nichts auszumachen, dass ich mithöre. Das Meiste ist eh auf Türkisch, aufgeregtes Geschnatter von Frauen und Stakkatosätze von Männern. Dazwischen vereinzelte Botschaften auf Deutsch. Aufforderungen, sich den Himmel anzusehen, Warnungen vor Schwületoten und Hitzekollapsen, Beschwerden über Mückenstiche, aufdringliche Wespen und Marienkäferschwärme.
Über die Marienkäfer lacht sich Sahin schlapp. „Ich geh mal raus, Himmel fotografieren“, sagt er schließlich.
„Nimm den Besen mit.“
„Mach du doch.“
Ich starre ihn eine halbe Minute stumm an.
„Ich mein, im Ernst. Was machst du?“
Ich drücke die Staubsaugerdüse vor seine definierte Brust und er weicht zurück, als hätte ich eine ansteckende Krankheit.
„Çüs lan“, beschwert er sich. „Nimm das Dreckdings weg.“ Angeekelt inspiziert er die Düse. „Was klebt da?“
„Spinnennetze, Käferkacke, Insektenkadaver.“
Er zischt missmutig. „Du bist echt krank, Mann.“
„Frau.“
„Hä?“
„Vergiss es.“ Du Kind, setze ich in Gedanken hinzu.
„Was ist mit Küche und so?“
Eigentlich soll er mir bei Bedarf in der Küche helfen, aber irgendwie schafft er es, dass es so aussieht, als seie ich ihm untergeordnet.
„Belegte Brötchen, Obst und Gemüse sind im Kühlschrank, alles verpackt und servierbereit. Nuggets, Schnitzel, Pommes, Patties und die Würste warten auf ihr Ölbad. Machen wir erst, wenn Leute reinrollen. Immer nur kleine Mengen.“
„Dann meckern sie, wenn sie warten müssen.“
„Ich will nicht, dass die Sachen in der Hitze verderben. Nachher haben wir noch eine Klage am Hals. Lebensmittelvergiftung oder so. Viele kommen eh nicht.“
„Logo, bei der Schwüle“, gibt er mir ausnahmsweise recht. „Schlimmer als die letzten Tage. Schade, dass wir diese Woche nicht Spätschicht haben. Nachts ist es angenehmer.“
„Ich dachte, ihr mögt Hitze.“
„Dreißig Grad in Türkei, schön am Meer, chillen, baden, tauchen, super. Dreißig Grad in Deutschland – scheiße warm.“
Er sagt dreißiesch und scheise mit weichem s. Abgesehen davon stimme ich ihm zu. Bis zur Ostsee sind es vierzig Kilometer Luftlinie. Bis zu uns verirrt sich keine Seebrise, kein Lüftchen, nur drückende Hitze. Ich stelle mir Sahin am Strand vor, in farbenfrohen Shorts, mit braun gebranntem, gestähltem Körper. Er achtet auf sich, das muss ich ihm lassen. Heute steckt er in eng anliegenden Jeans und einem Muscleshirt. Quer über die Brust hat er eine teuer aussehende Hipbag geschnallt. Nach der Arbeit wird er noch mehr Deo auftragen, sich ein gebügeltes, buntes Hemd überwerfen und ein Designer-Basecap aufsetzen. Ein Schnittchen, zweifellos. Wenn er will, kann er zudem überaus charmant sein, vor allem mit jüngeren Frauen. Ich passe nicht in sein Beuteschema.
„Gestern war so warm, dass ich nicht mal trainiert habe, Mann. Meine Freundin sagt, ich soll nicht wegen Hitzeschlag und so. Sie übertreibt voll.“
„Nächste Woche kannst du ja wieder pumpen. Geh so lange ins Freibad.“
„Freibad ist für Loser, ey. Aber See kannst du auch vergessen. Algen und so Zeugs. Fies eklig.“
Ich erinnere mich an die Ostsee vorgestern. Quallen und stinkendes Seegras überall. „Nienhagen war auch nicht so der Hit. Trotzdem immer noch besser als in der Stadt.“
Sahin verzieht bei der Erwähnung des Wortes Stadt verächtlich das Gesicht. Er kommt aus Reinickendorf, wohnt jetzt in Rostock. Kein Upgrade für ihn, im Gegenteil. Alle zwei Wochen düst er nach der Arbeit die zwei Stunden nach Berlin und ab und an schneien seine Brüder, echte oder auf der Straße adoptierte, hier herein.
„Ich geh mal fegen“, beschließt er.
Ich hebe den Staubsaugerschlauch. „Let’s have some fun.
„Nee, Mann. Ich stehe mehr auf Frauen mit richtigen Haaren.“


Sahins Bemerkung bohrt sich wie ein Splitter unter meine Haut. Ich streiche über meine fingernagelkurzen, gasflammenblauen Stoppel, während ich mit dem Sauger vertrocknete Insekten von den Fensterbänken schlürfe und mich darüber ärgere, dass der flapsige Kommentar eines neunzehnjährigen Schönlings mich überhaupt beschäftigt.
Viel Zeit zum Nachdenken bleibt mir zum Glück nicht, denn die anderen kehren zurück. Sven hält sich seine geschwollene Wange, die sein rechtes Auge zudrückt. Heike tippelt hinter ihm her. Shilan hat Filimon im Gepäck, den sie unterwegs aufgesammelt haben.
„Kaffee“, entscheidet Heike für alle und bläst die Wangen auf.
Eine gemeinsame Frühstückspause ist Neuland für uns. Nach der Spätschicht, wenn wir den Laden für ein paar Stunden dicht machen und nur Thomas, unser Hausmeister und Mädchen für alles, als Notbetreuung dableibt, trinken wir manchmal zusammen eine Cola, meist im Stehen und auf die Schnelle. Ansonsten nimmt sich jeder kleine Pausen zwischen den hektischen Stoßzeiten. Also sehen wir uns erstaunt an, bevor wir zögernd um einen der größeren Tische rutschen.
Ich sitze neben Sven und Filimon. Zu dritt beobachten wir Heike und Shilan, die die Spezialmischung in Tassen gießen und auf einem Tablett, zusammen mit Milch und Zucker, zu uns balancieren.
„Sollten wir die anderen dazu holen?“, fragt Filimon. „Sonst fühlen sie sich ausgeschlossen.“
„Mach doch“, wirft Heike ihm hin, ohne ihn anzusehen.
„Gregor auch?“, erkundigt er sich.
Heike verzieht das Gesicht, als hätte sie in etwas Saures gebissen. „Weiß nicht, ob der eine Pause so gut findet.“
Sven schaut sich übertrieben um, beugt sich sogar unter den Tisch. „Hm. Keine Gäste weit und breit.“
Wir müssen lachen, auch Heike. „Ich Gregor, du Sahin und Alex“, befiehlt sie Filimon anschließend und macht sich auf den Weg in die hinteren Räume, während Filimon zum Anbau abbiegt. Nach ein paar Schritten stoppt sie und blickt irritiert zur Scheibe, die leise erzittert, als ein weiteres Geschwader Insekten an ihr zerschellt. „Die Viecher machen mir Angst“, sagt sie und bekreuzigt sich.
Wir hören das Klappern einer Tür und Schritte, dann wird Gregor im Halbdunkel des Ganges sichtbar. Er sieht übernächtigt und blass aus. Hasi ist nun schon seit zwei Wochen krank und der Stress nagt an seinem Stellvertreter.
„Hey“, begrüßt ihn Heike. „Wollte dich gerade holen.“
„Wieso? Ist was passiert?“ Seine Augen huschen über Shilan, Sven und mich, mustern die dampfenden Kaffeetassen. Als er näherkommt, entdecke ich winzige Krümelchen unter seiner Nase, die er im selben Moment wegwischt, und weiß Bescheid. Er nimmt irgendwas, Koks vielleicht oder billigeren Dreck. Das überrascht mich, schockiert mich sogar ein wenig. Gregor sieht nicht aus wie ein Junkie, sondern wie der nette, im Job erfolgreiche Schwiegersohn. Adrett gekleidet, gebildet, geschult im Umgang mit Mitarbeitern, ein bisschen langweilig. Als er neben uns steht und sich von Heike und Shilan ins Bild setzen lässt, beobachte ich ihn verstohlen. Seine Pupillen sehen aus wie immer und er scheint nicht zugedröhnt. Entweder wirkt das Zeug noch nicht oder ich habe mich getäuscht und die Krümel waren Zuckerstreusel von einem Gebäckteil.
„Okay“, sagt er, als Heike mit ihrer Bestandsaufnahme des aufregenden Vormittags fertig ist.
„Ja, und?“, fragt Heike nach.
„Was und? Soll ich den Krankenwagen rufen wegen eines Wespenstichs? - Sie sind doch nicht allergisch?“, wendet er sich an Sven, der den Kopf schüttelt und „Quatsch“ grunzt.
Gregor schaut wieder Heike an. „Ich werde mit Thomas sprechen wegen der Fliegengitter. Im Arzneischrank steht bestimmt Anti-Mücken-Spray oder so was. Reibt euch damit ein. Macht keine hektischen Bewegungen. Kontrolliert alle Fenster, auch die im Keller und auf dem Klo. Seht zu, dass sie geschlossen bleiben, ebenso die Durchgangstüren zur Tankstelle.“
„Können wir nicht was gegen die Biester hier drin sprühen?“, fragt Heike.
„Wir sind ein Hygienebereich! Für morgen ist kälteres Wetter angesagt. Dann sind die Biester wieder weg und wir können die Fenster mal putzen. Die sehen schlimm aus, auch in meinem Büro.“
„Hast du dein Fenster zu?“, fragt Heike mit spitzem Unterton.
„Klar, schon wegen der Hitze.“
„Was ist mit den Rissen?“, frage ich.
Gregor runzelt die Stirn. „Hä?“
Ich zeige auf die Fensterbretter und erzähle ihm von den Ameisenlöchern.
„Ich rede mit Thomas. Vielleicht hat er was da. Wenn nicht, nehmt Backpulver. Oder Essig.“
„Das stinkt zu sehr, wenn da Leute essen wollen.“
„Ich glaube nicht, dass heute viel Betrieb sein wird. Du etwa?“ Er sieht mich an. Diesmal sind seine Pupillen knopfgroß. Kein Zucker, denke ich und bin fast ein wenig traurig.
„Nein“, gebe ich zu.
Er seufzt und wendet sich zum Gehen. „In zwanzig Minuten will ich euch auf euren Posten sehen, Leute. Shilan, die Sauger müssen verschwinden. Wenn ich zu Thomas gehe, frage ich nach dem Granulat.“
„Kriegen wir hin, Boss.“ Shilan lächelt ihn aufmunternd an. „Wie geht’s Hasi?“
„Herrn Siegmar“, korrigiert er. „Hab noch nichts gehört seit … egal. Wohl nicht so gut. Hat eine der fieseren Varianten. Mehr sage ich nicht. Datenschutz.“
„Grüß ihn von uns“, entgegnet Shilan. „Und gute Besserung. Vielleicht sollten wir ihm eine Karte schreiben oder so?“
„Ich bin doch nicht in der Grundschule“, stöhnt Heike. „Mein Gott, Hans hat Covid. So ernst wird’s nicht sein.“ Sie reibt an ihrem Wespenstich.
„Mach ich“, sagt Gregor, ohne zu erläutern, was genau er meint. „Ich muss mich um die Online-Präsenz und die Statistiken kümmern. Ich nehme mir eine Tasse mit?“ Fragend sieht er uns der Reihe nach an, kippt sich schließlich Kaffee in einen Pott und gibt einen Spritzer Milch dazu. „Also. Zwanzig Minuten.“
Er winkt Filimon und Alex zu, die sich soeben aus dem Anbau nähern. Alex schaut Gregor beinahe erschrocken an, als sei er bei etwas Verbotenem ertappt worden, und schiebt sich neben Shilan. Filimon setzt sich neben Heike, die einige Zentimeter abrückt.
Ein erwachsener Filimon hätte vielleicht so etwas gesagt wie „Ich beiße nicht“, aber Filimon ist sechzehn und gut erzogen. Er ignoriert Heikes Fauxpas mit einem nicht ganz überzeugenden Lächeln. „Sahin kommt gleich nach“, erklärt er in perfektem, melodisch gesprochenem Deutsch. „Er wollte noch kurz bleiben, um zu sehen, ob die Frau Hilfe braucht.“
„Welche Frau?“, fragt Shilan.
Filimon hebt die Schultern. „Eine Frau in einem alten Camper. Hat Probleme beim Einparken.“
Heike horcht auf und sieht auf ihre Uhr. „Gäste?“
„Nur die Frau“, sagt Filimon. „Ein paar andere haben nur gewendet und sind abgehauen.“ Wie zur Bestätigung hören wir das Quietschen durchdrehender Reifen und sehen ein rot-schwarz-gesprenkeltes Auto, das wieder Richtung Autobahn rast.
Sven beäugt den leeren Parkplatz. „Probleme beim Einparken?“ Er klingt ungläubig. Der Mann fädelt einen Achtzehntonner durch enge Kleinstadtstraßen. Einen Camper parkt er mit geschlossenen Augen und vierzig Fieber.
„Wahrscheinlich ist sie hübsch“, sage ich.
„Sahin guckt keine anderen Frauen an“, widerspricht Shilan zu meiner Überraschung. „Cannan wäre sofort auf und davon.“
„Ist Cannan seine Freundin?“
„Beinahe-Ehefrau“, erklärt Shilan und meine Verwunderung wächst.
„Der ist doch erst neunzehn“, sagt Alex, der seine Hände unter seine Schenkel geschoben hat wie ein Kleinkind, entgeistert.
„Er spart für die Hochzeit“, klärt Shilan uns auf.
„Wann?“
Sie zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung. Aber Cannan ist im sechsten Monat. Allzu lange können sie nicht mehr warten. Sein Onkel hat eine Autowerkstatt in Rostock. Wenn Sahin die Ausbildung schafft, stellt er ihn ein. Dann muss er nicht mehr pendeln.“
Oha. „Er macht eine Ausbildung und jobbt hier?“, hake ich nach.
„Nee, die Lehre beginnt erst im September. Dreieinhalb Jahre, mickriges Gehalt. Deshalb spart er wie ein Blöder. Seine und ihre Eltern schießen was zu, aber Berlin ist einfach zu teuer. Darum ist er nach Rostock. Sein Onkel hat ihm eine gute Wohnung besorgt.“
„Krass“, sagt Heike, ehrlich beeindruckt. „Also hat er einen Schulabschluss?“
„Nachgeholt“, antwortet Shilan. „Davor hing er ein paar Jahre in der Luft. Hat ein paar krumme Dinger gedreht und Scheiße gebaut. Nichts wirklich Schlimmes, aber doch Scheiße.“
Das überrascht mich nicht.
Heike blickt Filimon an. „Schulabschluss“, sagt sie, das Wort in Silben zerhackend, als sei Filimon beschränkt oder schwerhörig. „Siehste mal, wie wichtig das ist.“
„Ich habe einen Abschluss“, erklärt Filimon und schafft es, weder zu stolz noch zu beleidigt zu klingen. „MSA. 1,6.“ Er konstatiert das wie ein Statistiker. Ohne Angeberei, nur die Fakten.
„Und hast du auch einen Ausbildungsplatz?“, fragt Heike.
„Ich suche noch.“ Auch das sagt er ohne Emotionen, aber sein Gesicht hat sich verdüstert. Ich ahne, dass seine Hautfarbe und Herkunft eine gewisse Rolle bei den Ablehnungen gespielt haben.
„1,6?“, hakt Alex nach. „Wow. Ich hatte 3 Komma irgendwas.“
„Trotzdem machst du Abi.“
Jetzt verdüstert sich Alex Gesicht. „Wenn ich es schaffe. Ich drehe schon die Ehrenrunde.“
„Wird schon“, sagt Filimon und lächelt ein echtes, warmes Lächeln, das sein Gesicht auseinanderzieht wie einen Pizzateig, Grübchen und weiße Zähne freilegt.
Alex grinst etwas verschnupft zurück.
„Also wird unser Atatürk Schrauber“, fasst Heike zusammen und trinkt einen Schluck Kaffee. „Mannomann. Arbeiten kann er ja.“
„Mechatroniker“, sagt Shilan in die Stille, die Heikes Worten gefolgt ist, hinein.
Plötzlich hören wir hektische Schritte und sehen Schatten vor dem Fenster vorbei rennen, dann wirft sich Sahin von außen gegen die Tür, hinter sich eine dünne, quiekende Frau, die wild mit den Armen wedelt. Als die Tür endlich zur Seite gleitet, taumeln die beiden in den Gastraum. Sahin presst die Hände auf das Glas, wie um die Tür wieder zuzuschieben; ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen, da die Tür automatisch schließt. Gleichzeitig zerrt er die Frau weiter ins Innere und patscht sich blindlings auf Arme und Ohren.
Eine Schwadron wütend surrender Wespen begleitet die beiden. Geistesgegenwärtig springt Shilan zu meinem Staubsauger. Der Dalek erwacht heulend zum Leben und Shilan schwingt den Schlauch wie ein Samurai gegen die Wespen, während Sahin und die Frau den Gang Richtung Toilette hinunter rennen.
Die Wespen scheinen tatsächlich verwirrt. Ihre Formation löst sich auf und die Tiere verschwinden einzeln in den Ecken des Gebäudes.
„Macht die Deckenventilatoren an“, befiehlt Shilan.
„Das sollen wir nicht“, protestiert Heike lahm.
Shilan fährt zu ihr herum, den Sauger noch immer in der Hand. „Ist mir scheißegal!“, brüllt sie plötzlich. Ich erschrecke vor ihrer schrillen Stimme, die ich nur weich und samten kenne.
„Wo?“, frage ich.
Ohne eine Antwort eilt Heike in Richtung der Büroräume. Eine Tür springt auf, sie flucht, aber Augenblicke später brummen die Ventilatoren und verquirlen die verstreuten Wespen hoffentlich zu Insektenmehl.
Shilan sackt auf eine Sitzbank. Filimon nimmt ihr vorsichtig den Schlauch aus der Hand und schaltet den Sauger aus. Er sieht so erschrocken aus wie sie, fährt sich mit beiden Händen durch seine Lockenmähne.
Der Lärm lockt Gregor erneut aus seinem Büro, doch bevor er eine Frage stellen kann, kommt Sahin zurück in den Gastraum. „Sind sie weg?“, fragt er atemlos.
„Ja“, sagt Sven, als keiner von uns antwortet. „Die Kleine hier hat Ideen.“ Anerkennend nickt er Shilan zu, die auf ihrem Platz hockt wie ein Trauerklößchen.
„Meine Fresse“, flüstert Alex. „Was war das denn? Haben die Wespen euch angegriffen?“
„Quatsch“, sagt Gregor im selben Moment, in dem Sahin „Sieht so aus“ ausstößt.
„Guck dir meine Arme an, Mann.“ Sahin reckt Gregor seine nackten Arme entgegen. Ich zähle vier Stiche und einen weiteren auf seinem Ohr. Ähnlich wie Svens schwellen sie bereits zu murmelgroßen Beulen an.
Alex rutscht tiefer in seinen Sitz und sieht sich furchtsam um. Sein Adamsapfel hüpft beim Schlucken und er ist weiß wie die Kreide auf der Essenstafel. Er murmelt etwas, das niemand versteht.
Gregor räuspert sich. „Das … äh, das sieht nicht gut aus. Hast du was gemacht?“ Abwehrend hebt er die Arme, als er merkt, dass Sahin aus der Haut fahren will. „Ich meine, die greifen doch nicht einfach so an.“
„Diese beschissenen Mistviecher anscheinend schon. Und weißt du was? Da draußen sind Millionen von denen. Milliarden!“ Sahins noch immer vom Stimmbruch gekitzelte Stimme fängt an, sich zu überschlagen. Seine Hände fuchteln durch die Luft, schlagen zackige Bögen. „Zigtrillionen! Der ganze Asphalt ist bedeckt von denen! Zum Fegen hätte ich einen Schneeschieber gebraucht, verstehstu! Ich hab’s vorhin schon gesagt: Der verfickte Himmel ist schwarz. Wolken von Insekten, kapierst du? Wie diese Fledermausschwärme im Fernsehen. Und die machen Geräusche! Hör mal!“
Wir lauschen. Er hat recht. Die dicken Scheiben dämpfen die Außengeräusche, doch uns umgibt ein niederfrequentes Brummen, das klingt wie eine Mischung aus den Motorengeräuschen vorbeirauschender Autos und dem aufgeladenen Knistern, das man manchmal unter Strommasten wahrnimmt.
„Draußen ist es richtig laut“, sagt Sahin, jetzt wieder mit leiserer Stimme. Anscheinend ist sein Anfall verebbt. Mir fällt auf, dass sein Kanak ziemlich normalem Deutsch gewichen ist. „Mann, Greg! Da draußen brummt und surrt es, als lande ein Flugzeug. Und es raschelt und knackt und knistert wie ein Uraltfunkgerät. Da wird man verrückt!“
Sahin ist der Einzige, der Gregor Greg nennt und damit durchkommt. Ich überlege, wie alt Gregor eigentlich ist. Immerhin ist er stellvertretender Manager und muss irgendeine entsprechende Ausbildung abgeschlossen haben. Er ist ehrgeizig und zielstrebig, also tippe ich auf BWL. Mitte Zwanzig? Jedenfalls wirkt er jünger als sonst. Die Situation überfordert ihn eindeutig.
Sahin starrt Gregor abwartend an. Gregor fährt sich durch seine straßenköterblonden Haare, rubbelt sie, bis sie vom Kopf abstehen. Nun sieht er noch jünger aus.
„Wir müssen was machen“, sagt Shilan. Sie hat sich aufgerichtet und spricht wieder völlig ruhig. „Dies ist eine Abnormität, eine Anomalie. Milliarden Insekten, die Jagd auf uns zu machen scheinen. Ich betone: scheinen“, fügt sie mit fester Stimme hinzu, als sie Alex verstörten Ausruf auffängt. „Sie muss eine Ursache haben. Vielleicht die anhaltende Hitze.“
„Hitzewellen gibt’s doch jedes Jahr“, brummelt Sven. Er zieht eine Schachtel Zigaretten aus der Hosentasche, fischt sich eine heraus und steckt sie zwischen die Lippen, zündet sie aber nicht an, weil er Gregors empörtes Japsen hört.
„Vielleicht die Schwüle“, sinniert Shilan weiter. „Die ist neu. In manchen Ländern sind Menschen daran gestorben. Indien, Pakistan, Bangladesch. Fast hundert Prozent Luftfeuchtigkeit hatten die! Bei uns ist es nicht so krass, aber schon schlimm.“
„Na, super“, sagt Heike gequält. „Schwüle, Hitze, todbringende Insekten. Ich brauche eine Zigarette. Und einen Drink. Verdammt!“ Sie schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch. Alex zuckt zusammen.
„An Schwüle stirbt man?“, fragt Sahin zweifelnd.
„Wenn die Luftfeuchtigkeit zu hoch ist, kann der Körper keine Feuchtigkeit mehr abgeben“, erklärt Filimon tonlos. „Schwitzen kühlt dich nicht mehr. Dein Schutzmechanismus fällt quasi aus. Du überhitzt.“
„Wie ein Motor?“
„In etwa. Dauert gar nicht so lange. Bei hundert Prozent Luftfeuchtigkeit bist du in weniger als einer Stunde tot.“
„Bei ungefähr 41 Grad Körpertemperatur zerfallen deine Eiweiße“, fügt Alex hinzu und lächelt verkrampft. „Bio Leistungskurs.“
„Bist du durch den gefallen? Ich hoffe es, Mann, denn das, was ihr sagt, macht mir eine Scheißangst.“ Sahin plumpst wie ein nasser Sack neben Shilan auf einen Stuhl.
„Du kriegst einen Hitzschlag“, redet Alex weiter. „Herzrhythmusstörungen, Herzflimmern. Menschen mit niedrigem Blutdruck leiden besonders. Selbst Denken fällt dann schwer. Alles in allem: megascheiße.“
„Vielleicht drehen die Insekten deshalb durch“, denkt Shilan laut. „Vielleicht vertragen sie noch schlechter Hitze als wir.“
„Ich habe nichts davon in den Medien gehört“, sage ich. „Sonst gibt es doch für jeden Mist Warnungen zuhauf. Aber von durchdrehenden Insektenschwärmen habe ich nichts mitbekommen. Ihr?“
Alle schütteln die Köpfe.
„Wenn niemand warnt, ist auch niemand vorbereitet“, sagt Sven und nimmt die Zigarette aus dem Mund. „Das heißt, keine Notfallpläne, keine Vorhersagen, keine schnellen Reaktionen.“
„Meint ihr, es ist überall so?“, fragt Heike.
Wir sehen uns an und zum ersten Mal löst echte Angst Erschrecken und Ärger ab. Sie rollt über unsere starren Gesichter und frisst sich in unsere Eingeweide. Ich spüre sie in meinem Magen und in meinem Herzen, das lauter zu klopfen scheint als sonst.
„Gregor“, sagt Sven und seine Stimme klingt ein bisschen heiser, „ich zünde mir jetzt eine Fluppe an.“ Er beobachtet Gregor, der wiederum ihn anstarrt, zieht ein Feuerzeug aus seiner Tasche, zündet sich die Zigarette an und inhaliert tief.
„Gibst du mir auch eine?“, fragt Gregor.
Wortlos reicht Sven ihm die Packung.
„Hab seit Jahren nicht geraucht“, sagt Gregor, während er erschöpfte Rauchwölkchen ausstößt. „Mal sehen, ob’s mich umhaut.“ Er nimmt zwei Züge und schließt die Augen. „Gott“, stöhnt er. „Wollte euch eigentlich die Behindertentoilette zum Rauchen anbieten. Fili sollte Raumspray reinstellen.“
Sven reicht die Packung reihum. Heike nimmt sich eine Kippe und kichert. „Ich sollte heimlich auf‘m Klo qualmen wie damals in der Schule?“
Gregor grinst. „Jep. Ist euch noch nie aufgefallen, dass ausgerechnet das Behindertenklo ganz hinten ist? Die Behinderten biegen lieber vorher auf eine normale Toilette ab. Meist den Wickelraum.“ Er nimmt einen weiteren Zug und lacht auf. „Hab ich Hasi zigmal vorgehalten. Hat ihn nicht interessiert.“
Ich nehme auch eine Zigarette. Ich rauche selten, eigentlich nur, wenn mir jemand eine anbietet, so wie Sven jetzt. Deshalb rauche ich nicht auf Lunge, sondern behalte den Qualm ein paar Sekunden im Mund, bis ich ihn wieder ausstoße. Dazu nippe ich von meinem Kaffee, der immer noch heiß ist, obwohl ich das Gefühl habe, hier schon ewig zu sitzen. Tatsächlich sind nur ein paar Minuten vergangen, wie ich auf der Uhr ablese.
Auch Heike und Shilan trinken ihren Kaffee. Filimon gießt Sahin einen Becher ein und sieht Alex fragend an. Der schüttelt den Kopf.
Sahin stößt ihn an. „Mach mal, Alter. Kaffee gibt Haare auf der Brust.“
„Quatsch“, sagt Filimon. „Kaffee macht schön.“
„Haare auf der Brust sind schön.“
Die beiden klingen unbeschwert. Eine gemütliche Kaffeepause unter Kollegen. Und doch hängt eine Schwere über uns, die uns niederdrückt.
„Wo ist eigentlich die Frau?“, fragt Filimon. „Du hattest doch diese Frau dabei.“
Sahin springt auf. „Ich Sackgesicht. Die hab ich fast vergessen. Die wollte aufs Klo, erst mal runterkommen.“
„Warte“, hält Shilan ihn zurück. „Ich hole sie. Männer auf dem Frauenklo wirken creepy.“
„Ich wollte sie nur holen, nicht über sie herfallen.“
„Schon klar.“ Shilan lächelt mild. „Aber sie wirkte etwas derangiert. Bin gleich wieder da.“
Noch bevor irgendjemand protestieren kann, ist sie verschwunden.
„Derangiert.“ Sahin spuckt das Wort von sich. „Wie gebildet.“ Kopfschüttelnd trinkt er von seinem Kaffee und seufzt vor Wohlbehagen. „Nichts gegen deinen Automaten, Heike, aber Shilans Kaffee ist the shit.“
„Ich weiß“, sagt Heike, die an ihrer Kippe saugt, als gäbe es kein Morgen.
Vor einer Stunde hätte er noch nix und dein Automat gesagt, denke ich. Dieser Tag ist voller Überraschungen. Und er ist erst zur Hälfte herum.
Sahin knufft Alex in die Seite. „Mach mal, Digga. Hau rein. Koffein ist gut für den Blutdruck. Also auch gut gegen Hitze und Schwüle. Vielleicht sollten wir die Viecher davon saufen lassen.“
Niemand lacht. Der Gedanke an die tollwütigen Insekten vertreibt den letzten Funken Humor.
„Nein, danke“, erwidert Alex. „Kaffee schmeckt mir echt nicht.“
„Du beleidigst Shilan, wenn du nicht wenigstens kostest.“
Jetzt kämpft Alex mit sich, das kann man sehen.
„Lass ihn“, sage ich zu Sahin. „Wir zwingen dich auch nicht, Schweinefleisch zu essen.“
Er fährt hoch wie von der Tarantel gestochen. „Das kannst du nicht vergleichen. Das sind religiöse Gründe. Kulturelle.“
„Letztlich ist das egal. Er will nicht, basta.“
„Basta“, äfft er mich nach und sieht Alex abschätzig an. Ich begreife, dass ich einen Fehler gemacht habe. Alex beizustehen, macht ihn in Sahins Augen noch mehr zu einem Weichei. Alex begreift das ebenso, denn er rückt unmerklich ein Stück von mir weg und beäugt skeptisch die Tasse.


Die Frau kommt zu uns, ohne einen von uns anzusehen, schlüpft aus ihren Flip-Flops und hockt sich im Schneidersitz auf eine Sitzbank. Sie legt die sonnenverbrannten Arme um die Knie und nagt an ihrem Daumennagel. Ihre Arme und Schultern sind übersät von schorfigen Mückenstichen. Zwei frische Wespenstiche in zornigem Rot zieren ihr Schlüsselbein und ihre Stirn. Sie wirkt, als hätte sie einen Marathonlauf hinter sich: abgeschlagen, leer, ausgezehrt.
Shilan schiebt ihr einen Becher Kaffee hin, aber die Frau starrt reglos durch uns durch. Ich nehme sie genauer in Augenschein. Tanktop und Haremshose, ungekämmte, nachlässig hochgesteckte Haare in verschiedenen Tönungen, abblätternder Nagellack, abgekaute Nägel, ein paar Tattoos. Keine normale Touristin, so viel steht fest. Aussteigerin? Ausreißerin?
Shilan stellt uns der Reihe nach vor, dann fasst sie behutsam nach dem sehnigen Arm der Frau, die etwa in meinem Alter zu sein scheint. „Wie heißt du?“, fragt Shilan. Schade, dass sie Physik studiert; sie hätte eine kompetente Ärztin abgegeben. Eine, die sich um ihre Patienten kümmert.
„Henni“, flüstert die Camperfahrerin und räuspert sich. „Henriette. Aber so nennt mich nur mein Vater.“
„Schön, dich kennenzulernen, Henni“, sagt Shilan. „Sorry, dass du keine gute Ankunft hier hattest. Normalerweise ist es hier eher ruhig.“
„Stinklangweilig“, wirft Sahin ein. „Außer in den Stoßzeiten.“
Henni zieht die Nase hoch und verzieht zaghaft die Mundwinkel. „Ich weiß. War schon ein paar Mal hier. Ist nicht gerade meine Lieblingsraste.“
Raste. So wie in Tanke. Ich speichere das Wort ab.
Geschäftsmäßig beugt Gregor sich vor. „Warum nicht? Was stört dich denn?“
„Wo soll ich anfangen?“, fragt sie zurück und schlägt sich auf den Mund. „Ähm, sorry. Ich bin sicher, ihr tut alle euer Bestes. Liegt ja meist am Management.“
Autsch.
Gregors Gesicht versteinert und sein Mund wird zu einem dünnen Strich. Henni merkt sofort, dass sie was Falsches gesagt hat, entschuldigt sich noch einmal und plappert dann einfach drauf los. „Ich arbeite für das Umweltamt. Ich bin so eine Art … Rangerin. Ich fahre viel rum, kontrolliere die Gewässer und die Wälder, gucke wegen der Waldbrandgefahr, Käferbefall und so was. Außer im Winter bin ich eigentlich immer im Camper unterwegs, das spart mir die Hotelsuche und lange Rückfahrten. Außerdem bin ich gern draußen, also …“
Umweltamt. Wäre ich nie drauf gekommen.
„Dann weißt du ja wohl am besten, was mit den Insekten los ist“, entgegnet Sahin. „Sind die bekloppt geworden oder was?“
Henni knibbelt an ihrem Daumen, bevor sie den Blick hebt. Sie hat strahlendblaue Augen, die von einem Gewirr heller Fältchen umgeben sind. „Ich weiß nicht, was los ist“, gesteht sie. „Aber mir fällt seit einigen Tagen auf, dass sie vermehrt in Schwärmen oder Kolonnen unterwegs sind und aggressiver scheinen als sonst.“
„Kolonnen?“, fragt Shilan.
„Waldameisen und Käfer hauptsächlich. Schaben. Auch Asseln und Spinnen habe ich in größeren Anhäufungen gesehen.“
„Asseln und Spinnen sind keine Insekten“, sagt Alex.
Sie nickt. „Eins Plus mit Sternchen.“
Alex errötet und sie entschuldigt sich erneut.
„Also alles, was kreucht und fleucht“, fasst Sven zusammen und zündet sich noch eine Zigarette an.
„Und vieles, was fliegt. Schmetterlinge, Libellen.“
„Wespen, Hornissen, Mücken, Fliegen, Bienen“, setzt Heike hinzu.
Henni runzelt die Stirn. „Bienen sind mir nicht aufgefallen. Merkwürdig.“
„Was ist mit anderen Tieren?“, fragt Shilan. „Fledermäusen und Vögeln zum Beispiel.“
„Hitchcock.“ Sven stößt den Namen mit einem Schwall Qualm aus. Als die anderen ihn fragend ansehen, fügt er hinzu: „Die Vögel. Ist ein Film. Bisschen altbacken, trotzdem gut.“
„Nein, keine Vögel“, erklärt Henni entschieden. „Auch keine Säuger. Zumindest habe ich nichts Komisches beobachtet.“ Sie nimmt einen Schluck Kaffee. „Jedenfalls … Ich war die letzten Tage rund um Güstrow unterwegs. Hab mir die Seen angeschaut. Es gab Klagen wegen Algenbefalls und den Verdacht auf Bakterien. In der ersten Nacht ging es noch. Klar gab es Mücken am Wasser, aber ich konnte im Zelt gut schlafen. Zwei Moskitonetze drüber – fertig. Reicht eigentlich immer. In der zweiten Nacht am Nachbarsee sind die Viecher über mich hergefallen. Keine Ahnung, wie sie es durch die Netze geschafft haben. Bin in den Camper umgezogen und habe die Fenster zugemacht. Hölle bei der Hitze! Hab mich mit allem Möglichen eingerieben und sogar im Bus versprüht. Trotzdem wurde ich mehrfach gestochen. Ich habe nicht mal vier Stunden geschlafen. Dann wurde der dritte Tag schon echt unangenehm. Sehr heiß und schwül. Viele Menschen am See. Die standen dicht gedrängt im Wasser und waren ziemlich aggressiv. Ganze Schwärme von Wespen. Klar, wenn man Eis isst und Limo trinkt. Die Süße lockt die Viecher ja an, wie wir alle wissen. Die paar Mülleimer waren schnell überfüllt, also wirft man Verpackungen einfach irgendwohin und bäääm! Wespen überall. Idioten!“ Kopfschüttelnd nimmt Henni einen weiteren Schluck. „Hm. Der Kaffee ist gut. Hab ich gar nicht so in Erinnerung.“
Shilan strahlt, dann fängt sie Gregors waidwunden Blick auf und wird schlagartig wieder ernst.
„Am frühen Nachmittag eskalierte das Ganze. Einige sahen, wie ich Wasserproben nahm und wurden neugierig. Ich hatte die Proben noch gar nicht ausgewertet, aber irgendjemand rief laut was von Cholera und die Leute drehten durch. Ich wurde beschimpft, ziemlich massiv, und jemand warf was nach mir. Dann wurde – zum Glück für mich – ein Kind gestochen und heulte los, die Mutter total hysterisch gleich mit. Das lenkte die meisten ab und ich verschwand vorsichtshalber. Aus der Entfernung habe ich gesehen, wie die Leute hastig ihre Sachen packten und wie verrückt Decken und Handtücher ausschüttelten und sich gegenseitig anbrüllten. Einige schrien und Kinder weinten. Kam mir so vor, als hätten die Wespen sich zwischen den Sachen versteckt. Die im Wasser fingen auch alle an, um sich zu schlagen und aus dem Wasser zu rennen. Das war wie eine Massenflucht. Einige Menschen stolperten und die anderen trampelten einfach über die drüber. Die Liegeplätze leerten sich rasend schnell. Viele ließen buchstäblich alles stehen und liegen, andere griffen blind nach ihren Klamotten und rannten los. Auf den Parkplätzen muss reinstes Chaos geherrscht haben. Ich habe das Knallen und Krachen gehört und wie Menschen sich anschrien und verfluchten. Hupkonzerte und aufheulende Motoren. Die sind kollektiv durchgedreht! Gott sei Dank stand mein Camper versteckt im Wald. Ich bin zu ihm gerannt. Einmal bin ich hingefallen und hatte im Nu die Arme voller Waldameisen. Hab sie abgeschüttelt und bin weiter gelaufen. Im Camper habe ich mich eingeschlossen und zehn Minuten nur gezittert. Als ich das Handy halten konnte, hab ich den Notruf gewählt und denen erzählt, was los war, und sie versprachen, jemanden zu schicken.“
Henni umklammert ihre Kaffeetasse. Ihre Hände beben. Ihr braun gebranntes Gesicht sieht aus wie eine Maske.
Wir anderen schweigen uns bestürzt an. Gestern hätten wir die Geschichte wahrscheinlich für übertrieben gehalten, aber jetzt zweifelt niemand an Hennis Worten. Man muss nur einen Blick nach draußen auf die Insektenschwärme werfen, die in Schleifen über den Himmel verlaufen wie schlierige Farbe, nur auf das enervierende Brummen hören, das uns einzuspannen scheint. Mittlerweile fühle ich mich wie in einem Kokon.
„Und?“, fragt Shilan nach einer langen Weile.
Henni gibt ein Geräusch von sich, das sich anhört wie eine Mischung aus Lachen und Schluchzen. „Keine Ahnung. Ich bin losgefahren wie eine Irre. Über Forstwege hauptsächlich. Ich habe eine Karte mit allen Waldwegen, wisst ihr, und eine Genehmigung, die Wege zu nutzen. Zwischendurch wurde mir schwummerig. Die Stiche und Bisse und die ganze Aufregung. Ich musste ein paarmal anhalten und … kotzen. Die Nacht habe ich wieder im Camper verbracht, wieder mit allen Schotten dicht. Auf einem Parkplatz an einer Schule, weit weg von Menschen, Wasser und Wald. Mit mehreren Schichten Klamotten, obwohl ich geschwitzt habe wie in der Sauna. Ich bin für höchstens zwei Stunden weggenickt, dann bin ich aufgewacht, weil Motten und Schnaken gegen meine Fenster schwirrten. Die machen ja nichts, aber ich bekam Panik und fuhr los.“
Ihr Gesicht ist immer noch starr, doch ihre Augen entwickeln ein Eigenleben. Sie rollen in ihren Höhlen umher, blinzeln, zwinkern, zucken, stehen nie still. Die Frau steht am Rande eines Nervenzusammenbruchs.
Ich greife in meine Jeanstasche und ziehe eine kleine Dose heraus, ignoriere die Blicke der anderen, als ich Henni den zerknitterten Joint reiche.
Sie nimmt ihn, ohne wirklich hinzusehen. Ich borge mir Svens Plastikfeuerzeug und zünde den Joint an. Würziger Duft steigt auf.
„Qualm mögen Insekten übrigens nicht“, sagt Henni und hustet, als der Rauch ihren Rachen kitzelt. „Gilt besonders für bestimmte Düfte. Kaffee oder Weihrauch. Hält nicht lange vor, aber es schreckt sie erst mal ab.“
„Wenigstens eine gute Nachricht“, sagt Heike und zündet sich noch eine Kippe an. Mittlerweile ist unser Tisch von Rauchschwaden umhüllt wie früher die Kneipen.
„Auf dem Weg hierher habe ich eine Menge Autos am Straßenrand gesehen“, sagt Henni mit brüchiger Stimme. „Manchmal mehrere ineinander verkeilt.“
Wieder sehen wir uns an, während jeder sich Hennis Schilderung bildlich vorstellt.
„Leere Autos?“, bringt Alex schließlich hervor.
Jetzt glitzern Tränen in Hennis Augenwinkeln. „Ich habe nicht angehalten. Bei den Autos standen die Türen offen, so als seien die Insassen einfach getürmt.“
„Hast du Menschen gesehen?“, fragt Shilan. „Also … Leichen?“ Das Wort hört sich so dermaßen falsch an, dass mir übel wird. Ich nehme den Joint aus Hennis Fingern und sauge daran.
„Nein“, sagt Henni zu unser aller Erleichterung. „Auch keine Zombies.“
„Immerhin“, erwidert Sven trocken.
„Natürlich habe ich Menschen gesehen und die Welt steht noch. Nicht viele Menschen, aber - hey - wir sind in Mecklenburg. Nur die Autobahn ist ungewöhnlich leer, so wie eure Raste.“
„Vielleicht sollten wir den Laden dichtmachen und nach Hause fahren“, schlägt Heike mit sorgenvoller Miene vor. „Nach unseren Familien schauen. Ich mache mir Gedanken um meine Kinder.“
Sahin winkt mit seinem Handy. „Wenn was Schlimmes wäre, würden die doch anrufen.“
Witzig, dass außer Sahin daran noch niemand hier gedacht hat. Normalerweise checken Alex, Fili, Shilan und Heike ständig ihre Handys, aber außer Sahin habe ich das seit heute Morgen niemanden tun sehen. Was ist, wenn alle anderen ebenso damit beschäftigt waren, sich gegen durchgedrehte Insekten zur Wehr zu setzen? Rasch nehme ich noch einen Zug.
„Trotzdem“, sagt Heike.
„Wir können nicht einfach zumachen“, erwidert Gregor matt.
„Klar. Häng dich ans Telefon und ruf Hasi an. Erklär ihm, dass wir eine Ausnahmesituation haben.“ Heike redet sich in Rage. Sie raucht mit ruckartigen, heftigen Atemstößen.
Gregor fährt sich über die Augen. „Ich kann Hans nicht erreichen“, sagt er dann. „Seit Samstag nicht mehr. Ich bin zu ihm nach Hause gefahren, aber da war er nicht. Seine Frau auch nicht. Die Nachbarin erzählte, er wäre im Krankenhaus. Mit Notarzt und so.“
„Wegen Covid?“, fragt Shilan mit großen Augen.
„Denke schon. Erinnert ihr euch noch an die ersten Wellen?“
„Klar“, sagt Sahin und grinst. „Lockdowns. Home Schooling. Geile Zeit.”
“Na ja”, erwidert Alex. “So geil nicht. Meine Eltern waren strenger als die Lehrer.“
„Meine auch“, fügt Filimon hinzu.
„Die Hölle“, erinnert sich Heike. „Meine Jüngste war gerade eingeschult worden. Ich musste ihr Lesen, Schreiben und Rechnen beibringen, nebenbei die beiden Großen im Auge behalten, Arbeitsblätter runterladen und ausdrucken, uns bei Lernportalen anmelden, Videokonferenzen managen, zur Schule fahren und neues Material holen. Und das alles bei Kurzarbeitergeld. Yay.“
Ich war damals schon an der Uni gewesen. Ich erinnere mich, wie Ben und ich wochenlang, monatelang aufeinander gehockt und gelernt hatten. Keine Partys, keine Freunde, kein Weggehen. Nur Ben und ich und die Vorlesungen am Rechner. Eine Menge Sport zu Hause, mehr Alkohol, mehr Joints. Und dass Oma im Krankenhaus gelandet war und ich sie nicht besuchen durfte.
„Liegt er im Koma?“, frage ich und stelle fest, dass meine Stimme rauer klingt als sonst.
„Weiß ich nicht“, sagt Gregor. „Aber ich befürchte es.“
„Aber Covid ist doch harmlos heutzutage“, wendet Shilan ein. „Oder hat einer von euch schon mal schlimme Symptome gehabt? Langzeitprobleme?“
Wir schütteln die Köpfe.
„Hasi ist über sechzig“, sagt Gregor geduldig. „Er hat Vorerkrankungen.“
„Dann rufe jemand anders an“, sagt Heike. „Irgendeinen Vorgesetzten. Es muss doch jemanden geben, der verantwortlich ist. Oder mach einfach zu. Niemand ist hier, niemand wird kommen.“
„Was ist mit Sven und Henni?“
„Ich düse nach Hause zu meiner Holden“, sagt Sven achselzuckend.
„Ich auch“, sagt Henni. „Ich kann jemanden mitnehmen, wenn ihr nach Rostock wollt.“
„Wir haben alle eigene Autos“, erwidert Heike.
„Ich nicht“, sagt Fili. „Meine Mutter bringt und holt mich, manchmal auch mein Vater.“
„Ach, du Scheiße“, sagt Sahin erschrocken.
Filimon lächelt. „Ich wohne nicht weit.“
„Ich nehme dich mit“, bietet Henni an und mustert Alex. „Was ist mit dir?“
„Ich habe ein Auto. Danke. Und ich wohne auch gleich um die Ecke. Kein Problem.“
„Ich kann nicht einfach zumachen“, wiederholt Gregor. „Damit riskieren wir unsere Jobs. Und ein paar Wespen sind keine Ausnahmesituation. Hitze auch nicht. Wir halten alle Arbeitsschutzmaßnahmen ein. Vorbildlich sogar. Bis auf regelmäßige Pausenzeiten“, fügt er hinzu. „Aber das ist im Gastronomiegewerbe überall ein Problem.“
„Hast du Henni nicht zugehört?“, keift Heike. „Insekten greifen Menschen an! Es gibt Massenpaniken. Menschen lassen ihre Sachen - ihre Autos - stehen und fliehen.“
„Es gab eine Panik“, korrigiert Gregor.
„Das glaube ich nicht.“ Der Joint zeigt Wirkung. Hennis Hysterie ist nahezu verschwunden. Sie wirkt weiterhin beunruhigt, ist aber kein Nervenbündel mehr. „Mir geht eine Sache nicht mehr aus dem Kopf“, erläutert sie. „Als ich den Notruf wählte und von einer Massenpanik berichtete, rutschte der Frau etwas raus: Noch eine? Ach, du Scheiße.
„Das hat sie gesagt?“, fragt Shilan.
„Wortwörtlich. Dann erklärte sie, dass es etwas dauern könne, bis man vor Ort sei. Die Rettungskräfte seien alle im Einsatz. Hab auch überall Blaulicht gesehen auf dem Weg hierher.“
Das war schon die letzten Tage so gewesen. Sirenen Tag und Nacht. Während der Hitzewellen kippen viele aus den Latschen, vor allem Alte. An den schwülen Tagen noch mehr. Wenigstens etwas, das Oma nicht mehr ertragen muss, denke ich mit einem Kloß im Hals.
„Siehst du?“, bellt Heike Gregor an.
Der steht auf und baut sich vor ihr auf. Zum ersten Mal sehe ich, dass Gregor größer als wir alle ist und dass Zorn ihn umweht. „Wir bleiben alle hier!“, sagt er laut. „Und lass die Panikmache, Heike. Die bringt keinem was. Ein paar von uns haben Wespenstiche, meine Güte!“
„Ziemlich dolle Stiche“, bemerkt Sahin und reibt über den an seinem Ohr. „Guck uns mal an, Mann. Wir sehen aus, als hätten wir Beulenpest.“
„Das stimmt“, sagt Henni. „Scheint, als wäre das Gift stärker als sonst. Wie gesagt, mir war stundenlang echt schwummerig. Und bei mir waren es nur Mücken und Ameisen.“
„Wir sind hier sicher“, betont Gregor. „Dicke Fenster, Fliegengitter, Ventilatoren. Raucht ruhig weiter, zündet von mir aus Kaffee an. Esst und trinkt was. Stellt Sirupgläser auf. Reibt euch ein. Ich sage Thomas wegen der Aufträge Bescheid. Arbeitet was, lenkt euch ab, schlaft eine Runde, aber bleibt hier. Herrje!“ Verärgert fährt er sich durch die Haare, stockt dann. „Wo ist Thomas eigentlich? Hat irgendeiner von euch ihn heute schon gesehen?“
Das ist der Moment, in dem mir das Blut in den Adern gefriert.

Die Raststätte ist ein schmuckloses Gebäude ohne überflüssige Ecken und Winkel. Gastraum, Küche, Lager, Kühlräume, Keller, Verwaltungstrakt, Motelanbau, Toilettenflügel. Deshalb finden wir Thomas in weniger als zwei Minuten. Er liegt im Keller nahe der Schwingtür, die Raststätte und benachbarte Tankstelle trennt.
Ich weiß, dass Thomas mit Achim, dem Tankstellenpächter, befreundet ist. Sie sind beide Mechaniker und leidenschaftliche Biertrinker und treffen sich oft auf eine Zigarette in Thomas Kabuff. Einmal habe ich es aufgesucht, weil Thomas einen tropfenden Hahn reparieren sollte. Ich landete in einem vollgestellten, nach Qualm, Bier, Motoröl und Fußschweiß stinkenden Raum mit vergilbter Tapete, vergilbter Wachstuchtischdecke und vergilbten Regalen und Spinden, in dem Thomas und Achim philosophierend um ein wackliges Tischchen hockten, eine Kippe zwischen gelbe Finger geklemmt. Eine Alte-Männer-Höhle, zu der andere, insbesondere Frauen, keinen Zutritt haben.
Jetzt liegt Thomas nahe der Schwingtür auf der Seite, das Gesicht von uns abgewandt. Gregor beugt sich bereits über ihn, tippt ihn mit dem Finger an.
Nichts passiert.
„Atmet er?“, flüstert Shilan, die Gregor am nächsten ist.
„Keine Ahnung.“
„Dreh ihn rum, Mann!“, befiehlt Sahin. Er schiebt Alex und mich beiseite und stellt sich neben Shilan. „Wir müssen überprüfen, ob er atmet. Mach schon!“ Sahin klingt überhaupt nicht nervös, eher wie ein Kommandeur.
Ich spüre, wie Alex mir über die Schulter lugt und sich gleichzeitig hinter mir versteckt. Sein Atem kitzelt meinen Nacken und ich bekomme Gänsehaut.
Gregor zaudert sichtlich, überwindet sich dann und packt Thomas an der Schulter, hält jedoch inne. „Was ist, wenn er sich was gebrochen hat und ich ihm wehtue?“
„Dann brüllt er und wir wissen, dass er atmet“, sagt Sahin. „Na los! Zieh!“
Gregor zieht.
Thomas ist kein Leichtgewicht und Gregor muss sich ins Zeug legen, um den schlaffen Körper herumzudrehen.
Als der Oberkörper herumrollt, Thomas Kopf wie ein nutzloses Anhängsel mit sich ziehend, zuckt Gregor zusammen wie von einer Schlange gebissen. Shilan reißt die Hände vor ihren Mund, Alex schreit auf und ich weiche keuchend zurück.
„Verdammt“, sagt Sahin atemlos, drückt Gregor wie einen Gegenstand beiseite und geht neben Thomas in die Knie. Der Junge muss Nerven aus Stahl haben, denn er legt zwei Finger an Thomas aufgedunsenen Hals, beugt sich über das grässlich verquollene, kaum noch zu erkennende Gesicht und hält das Ohr horchend an die Lippen, die aussehen wie das Ergebnis einer verpfuschten Schönheitsoperation. Nach bangen Sekunden schüttelt er den Kopf und nimmt Thomas ballonförmige Hand. Ich starre auf diese Hand, denke an meinen Chemieunterricht, an den Gummihandschuh, den wir aufgeblasen hatten, um anschließend die Öffnung zusammenzudrücken und quietschend die Luft entweichen zu lassen.
Sahin kneift die straff gespannte Haut auf Thomas Handrücken, doch keine Luft entweicht und kein Schmerzenslaut kommt über die aufgeblähten Lippen.
„Stabile Seitenlage?“, fragt Gregor.
Sahin legt Thomas Hand vorsichtig auf dessen Bauch ab und dreht sich nach Gregor um. „Ich glaube nicht, dass das noch was bringt, Chef.“
Fahle Blässe kriecht in Gregors Gesicht. Man kann richtig dabei zusehen. „Was meinst du?“
„Er atmet nicht.“
„Dann… was heißt das? Mund-zu-Mund-Beatmung?“
„Normalerweise schon.“ Sahin wischt sich die Hände an den Hosen ab und steht auf. „Aber sein Hals und sein Gesicht … seht ihr ja selbst. Man kriegt die Lippen nicht mal auseinander.“
„Nase“, sagt Shilan, die aus ihrer Schockstarre zu sich kommt. „Man kann auch durch die Nase beatmen. Oder einfach nur Herzdruckmassage ausüben. Ich hab mal gehört, der Mensch hat immer noch Sauerstoff in der Lunge, sodass man gar nicht beatmen muss.“
„Mann!“, erwidert Sahin und schließt die Augen. Man sieht, wie er sich bemüht, nicht die Beherrschung zu verlieren, sie nicht anzuschreien. „Der ist total verquollen, als hätte jemand ihn aufgepumpt. Nase, Mund, Augen – alles zu. Der ist hinüber. Tot. Versteht ihr. Gone.“
Alex hinter mir keucht auf, dreht sich zur Seite und kotzt auf den Estrich.
Sahin blinzelt ihn an. „Junge, das ist so eklig.“
Das findest du eklig?“, fragt Shilan. „Aber eine Leiche fasst du an?“
„Kotze ist eklig.“
„Sorry“, sagt Alex kleinlaut und wischt sich über die Augen. „Aber er… sieht so … schlimm…“ Wieder würgt er. Vorsichtshalber weiche ich zwei Schritte aus und trete dabei beinahe auf Thomas.
Sahin wedelt Alex weg wie eine Fliege. „Hau ab. Kotz woanders.“
Dankbar rennt Alex die Treppe hoch Richtung Küche.
„Ruf den Notarzt“, sage ich zu Gregor.
„Er ist tot“, wiederholt Sahin. „Er atmet nicht und zeigt keine Reaktion auf Schmerz. Kein Puls. Man riecht, dass er eingeschissen hat. Ich würde auch seine Pupillen untersuchen, aber die Augen kriegt man nicht mehr auf.“
„Soweit ich weiß, darf nur ein Doktor den Tod feststellen“, erwidere ich.
„Woher weißt du das alles?“, fragt Shilan Sahin, ohne meinen Einwand zu beachten.
„Erste Hilfe. Auffrischungskurs vor zwei Wochen.“
„Dann weißt du, dass nur ein Doktor zweifelsfrei den Tod feststellen kann“, wiederhole ich. „Wir müssen den Notarzt rufen. Und die Polizei.“
Erschrocken reißt Gregor die Augen auf.
„Kann aber auch sein, dass die automatisch mitkommt“, schiebe ich hinterher. „Ich glaube, in Berlin ist das so. Ob auch in MeckPomm, weiß ich nicht.“
„Glaubt ihr, er ist gefallen?“, fragt Shilan und kommt ein Stückchen näher. Sie und ich beäugen Thomas gründlicher, nachdem der erste Schrecken gewichen ist.
„Klar ist er gefallen“, entgegnet Sahin. „Er liegt am Boden.“
„Arschloch“, murmelt Shilan. „Ich meinte, gestürzt. Die Treppe runter oder so. Vielleicht hat er sich verletzt bis hierhin geschleppt.“
Ich betrachte die Schwellungen und schüttele den Kopf. „Das sind Stiche. Dutzende Stiche.“ Ich atme tief durch und sehe die anderen an. „Der ist entweder am Insektengift gestorben oder an der Panik. Jede Wette, er kam von draußen. Bestimmt von Achim. Ist hier rein geflohen und zusammengebrochen.“
Shilan presst ihre Lippen auf ihren Handrücken, als wolle sie einen Schrei ersticken. Dann sieht sie sich furchtsam um. „Denkt ihr, es war wie bei Henni? Ein Schwarm? Ist er noch hier?“
Sofort spritzen wir vier auseinander und scannen die Umgebung.
„Sollen wir nachsehen?“, flüstert Gregor. „Auch nach Achim?“
„Spinnst du?“, fährt Sahin ihn an. „Darum soll sich die Feuerwehr kümmern.“
„Aber…“
„Er hat recht“, schneidet Shilan Gregor das Wort ab. „Wir machen jede Tür und jedes Loch hier unten zu und verrammeln die Schwingtür. Ebenso die Tür zum Keller. Nichts darf hier rein. Jetzt wissen wir, dass das Gift von den Viechern tödlich sein kann.“
„Vielleicht hatte er eine Vorerkrankung oder eine Allergie“, wende ich ein.
„Egal! Wir gehen kein Risiko ein. Los! Lasst uns einen Besen oder so auftreiben, um die Tür zu verkeilen.“
„Und Achim?“, hakt Gregor nach.
„Wir sagen dem Notarzt, er soll da vorbeischauen“, entscheidet Shilan.
„Lassen wir ihn hier?“ Ich schaue auf Thomas, den ich nicht besonders leiden mochte, der mir aber dennoch leidtut, so wie er hier liegt.
„Ja“, sagt Shilan nach einem stummen Blickwechsel mit Sahin. „Ihm ist nicht mehr zu helfen. Oder was hattest du vor?“
„Ihn kühlen“, sage ich und ernte ungläubige Blicke.
„Das ist doch hier kein Horrorfilm, Mann.“ Sahin macht sich auf die Suche nach einem Besen. Ich beobachte, wie er vor jeder Tür innehält und sein Ohr dagegen legt, als lausche er nach Brummen oder Surren.


Eine Viertelstunde später platzen wir im Gastraum in einen Streit zwischen Heike und Sven, während Filimon versucht, Alex zu besänftigen, der mit roten Augen steif auf einem Stuhl hockt. Offenbar hat Heike genug und will nach Hause. Sven bittet sie immer wieder, Ruhe zu bewahren, bietet an, noch eine Kanne Kaffee zu kochen.
Unterdessen probiert Gregor, einen Notarzt zu erreichen, landet aber in Warteschleifen oder bei Dispatchern, deren Stimmen schrill aus dem Telefon schallen, bis er frustriert das Handy auf den Tisch knallt. „Alle im Einsatz oder Leitung belegt. Klingt nicht gut. Überhaupt nicht gut.“
„Hier auch nicht.“ Henni wedelt mit ihrem Handy. „Ich habe im Umweltamt angerufen, um mit meinen Vorgesetzten zu sprechen. Sind alle in Notfallbesprechungen oder unterwegs zu irgendwelchen Sondersitzungen. Meine Kollegen haben einen Maulkorb verpasst gekriegt, das war ziemlich offensichtlich. Selbst meine Lieblingskollegin druckst nur rum. Kommen wohl Anrufe ohne Ende. Sie sagt, die Netze brechen immer häufiger zusammen. Offenbar versucht jeder gerade, irgendwen zu erreichen.“
„Na, prima.“ Heike sinkt neben Sven auf die Sitzbank. „Jetzt kann ich meine Kinder nicht mal anrufen.“
„Wo sind sie denn?“, fragt Sven mitfühlend.
„Bei meiner Mutter. Olli holt sie gegen vier ab. Wir wollten heute grillen.“
Sven tätschelt ihre Hand. „Es ist bestimmt alles okay. Deine Mutter wird sie reinholen und aufpassen.“
„Hoffentlich. – Ich mache Kaffee. Bin zu nervös zum Rumsitzen.“
„Ich helfe dir“, bietet Shilan an. „Du auch, Alex? Siehst aus, als könntest du eine kleine Stärkung gebrauchen.“
„Ich hab noch den von vorhin“, entgegnet Alex und lässt sich von Filimon den Becher reichen.
„Schau erst rein, ob…“, sagt Sven, aber da hat Alex den Kaffee bereits hinuntergestürzt, als wolle er die Sache endlich hinter sich bringen.
Eine Sekunde später fällt der Becher zu Boden und zersplittert in abertausende Teile, während Alex mit beiden Händen an seine Kehle greift.
Er keucht und röchelt, tanzt einen seltsam ungelenken Tanz, wischt weitere Tassen vom Tisch, stößt einen Stuhl um.
Hilflos wuseln wir um ihn. Shilan und Sven versuchen, ihn festzuhalten, doch er schüttelt sie ab. Plötzlich entwickelt der schlaksige Jugendliche Kräfte, gegen die sogar der bullige Fernfahrer nicht ankommt. Sahin brüllt etwas, das im allgemeinen Getümmel untergeht. Nur Henriette scheint es gehört zu haben, denn plötzlich steht sie neben mir und zupft an meinem Arm. „Eis!“, schreit sie mir ins Ohr. „Was zum Kühlen!“
Ich renne los.
Sekunden später kehre ich mit zwei Kühlpacks zurück, die Sahin hastig in Servietten wickelt und Alex auf den Hals presst, während Sven und Shilan ihn mit vereinten Kräften auf einen Stuhl zerren. Dort zappelt Alex weiter, aber mit zunehmend langsameren Bewegungen.
„Er erstickt.“ Filimons leise Stimme klingt fassungslos. Mit großen Augen starrt er auf den beinahe Gleichaltrigen. Dann verwandelt er die Feststellung in die Frage eines verängstigten Kindes. „Erstickt er?“
„Wir müssen von außen kühlen, damit die Schwellung zurückgeht“, brüllt Henni, ohne Fili zu beachten.
„Und einen Arzt rufen“, füge ich hinzu.
„Niemand geht ans Telefon.“ Filimon weist auf Heike, die hysterisch in den Festnetzhörer kreischt und gleichzeitig auf ihrem Handy herumtippt.
„Er ist Allergiker“, sage ich. Meine eigene Stimme kommt mir verzerrt vor, metallisch und hoch.
Henni schlägt die Hände vor ihr Gesicht. „Shit!“
Nichts hilft. Meine Kühlpacks nicht, Shilans Rückenmassagen nicht, Svens beruhigende Worte nicht, Filimons Gebete nicht, Heikes panische Anrufe nicht, Hennis Beatmungsversuche nicht und am allerwenigsten Gregors Automatenstarre. Alex stirbt vor unser aller Augen einen schrecklichen, furchtbaren Tod. Mühsam saugt er Atemluft in seine unförmig angeschwollene Kehle, während sein Gesicht sich blau verfärbt und seine Augen sich nach oben verdrehen, bis nur noch blutgesprenkeltes Weiß zu sehen ist. Er sackt auf dem Stuhl in sich zusammen und gleitet zur Seite, krampfhaft gehalten von Sven, Sahin und Gregor. Als Sahin ein Küchenmesser in Alex Kehlkopf rammt in einem verzweifelten letzten Versuch, das Unaufhaltsame aufzuhalten, ist Alex schon ohne Bewusstsein. Zum Glück, denn Sahins Luftröhrenschnitt gerät zum blutigen Desaster.
Schließlich ist Stille. Eine lärmende, atemlose Stille. Sie dauert nur einen winzigen Augenblick, einen Bruchteil von Alex Todeskampf nur, dann heult Heike los wie ein Autoalarm und dreht durch.
Sven will sie festhalten, krallt seine Finger um ihre Taille, aber Heikes Verstand hat sich abgeschaltet. Ihre Instinkte übernehmen. Ihr Fluchtreflex. Schreiend windet sie sich aus Svens Armen, schlängelt sich durch uns, die wir noch paralysiert um Alex kauern, und sprintet zur Eingangstür.
„Nicht!“, brüllen wir entsetzt im Chor auf, doch Heike hat die Lichtschranke bereits durchbrochen und die Türen gleiten beiseite.
In Nullkommanichts ist sie auf dem Parkplatz und rennt blindlings über den kochenden Asphalt.
Sofort erhebt sich wütendes Brummen, schwillt an zu Getöse. Erschrocken lausche ich auf den Lärm. Mein Gehirn sucht nach Vergleichen. Ein Flugzeug. Ein durch einen Tunnel rasender Zug. Ich kann nicht fassen, dass hauchzarte Flügelchen den Krach verursachen, stelle mir stattdessen mächtige Motoren und klobige Turbinen vor.
Dann senkt sich der Himmel.
Mit einem Aufschrei preschen Sven und Filimon durch die Tür. Henni, Shilan und ich stürzen hinterher. Auf der Schwelle reißt Henni mich zurück. Ich stolpere gegen Shilan, die auf den Notfallöffner eindrischt.
„Das bringt nichts“, sage ich. „Das ist nur ein Öffner.“
Shilan wirbelt zu Gregor herum. „Wie verriegelt man sie?“
Gregor glotzt sie an.
„Wie verriegelt man die scheiß Tür?“ Speichel sprüht in Gregors Gesicht. Er weicht zurück und zögert, dann sprintet er mit langen Schritten in den Büroflügel.
Vor der Tür vereinigen sich mehrere kleinere Schwärme zu einem Riesenschwarm, der sich wie eine gigantische Woge auf Heike ausrichtet. Wir fangen an zu schreien, fuchteln mit den Armen, springen auf der Stelle, als feuerten wir Sportler an, die auf die Zielgerade einbiegen. Nur Sahin steht wie festgefroren. Er hat sich nicht einmal vom Tisch wegbewegt.
Dann endlich schließt sich die Tür mit einem Zischen und schneidet uns von der Welt ab. Ein kleiner Punkt leuchtet auf, als die Verriegelung sich aktiviert. Hinter den Scheiben beobachten wir, wie eine schwarze, pulsierende Wolke sich um Heike legt, sie einhüllt und verschluckt. Ihre Schreie dringen gedämpft zu uns, so, als säße man mit Stöpseln in den Ohren auf dem Grund eines Swimmingpools. Aber vielleicht ist das nur mein Verstand, der auf Standby geht. Heike sieht aus wie früher die Kinder in ihren dicken Schneeanzügen, nur dass ihr Anzug aus Insekten besteht, die jeden Millimeter ihres Körpers bedecken. Sie torkelt noch einige Sekunden umher, bricht schließlich zusammen. Der Schwarm begräbt sie unter sich wie eine Schneewehe.
Sven und Filimon, die ihr zu Hilfe eilen wollten, spritzen auseinander. Sven entwickelt trotz Bierbauch und Badelatschen eine beachtliche Geschwindigkeit, rennt armefuchtelnd und eine längliche Schwarmwolke mit sich ziehend in Richtung seines Trucks. Sie erwischt ihn, gerade als er auf den Nebenparkplatz einbiegt, ringt ihn genauso mühelos nieder wie Heike, obwohl er größer und bestimmt dreißig Kilo schwerer ist als sie.
Filimon schafft es zurück bis zur Tür, wirft sich gegen sie. Wir sehen seinen weit aufgerissenen Mund, hören seine Schreie. Sahin setzt sich in Bewegung, aber Henni tritt ihm in den Weg. Shilan stellt sich vor den Notöffner und blockiert ihn mit ihrem ganzen Körper. Entschlossenheit blitzt aus ihren Augen.
Sahin hechtet auf Shilan zu, sie mit Beleidigungen und Flüchen eindeckend. Henni und ich halten ihn fest, die Augen kaum von Filimon abwendend, dessen Fäuste gegen die Türen prasseln wie die Insekten um ihn herum. Er weint und bettelt und mein Herz zerbricht. Neben mir schluchzt Henni. Auch aus Shilans Kehle kommen Wimmerlaute. Dennoch hat sie sich vor dem Schalter aufgebaut wie ein Türsteher vor einem Club, mit dem Rücken zur Tür. Sie vermeidet es, nach draußen zu blicken, wo Filimons dunkles Gesicht sich verzerrt vor Angst und Schmerz. Sie sieht nicht, dass seine Knöchel bluten und ihm Rotz aus der Nase läuft, sieht nicht, wie er unter einem dicken Teppich aus Insektenleibern verschwindet. Mit Tränen in den Augen wehrt sie Sahin ab, der versucht, sie von dem Schalter zu zerren.
Schließlich verpasst Sahin ihr einen Faustschlag, der sie zur Seite taumeln lässt.
Doch es ist zu spät. Der Öffner reagiert nicht, egal wie heftig er auf ihn einhämmert. Gregor hat ihn abgeschaltet.
Indes presst die Wucht der Insektenleiber Filimon gegen die Scheibe. Seine Wange und seine Nase quetschen sich an das Glas. Mein beschädigter Verstand zaubert das Bild eines albernen Cartoons herbei, in welchem ein Kater an einer Scheibe hinunterrutscht, während sein Körper die seltsamsten Verrenkungen macht. Ein irres Lachen kitzelt meine Kehle. Ich reiße die Hände vor den Mund und würge.
Filimon verschwindet in einer Traube aus rasselnden, summenden Leibern. Bevor er zusammenbricht, sehe ich, wie Wespen in seine Nasenlöcher kriechen und Hornissen in seine Ohren. Ich sehe, wie er verzweifelt versucht, den Mund zu schließen, aber der Insektenstrom fließt bereits zwischen seinen Lippen hindurch in seine Mundhöhle, verzerrt seine ebenmäßigen Gesichtszüge zu einer grotesken Gruselmaske.
Henni gibt quiekende Laute von sich und trampelt auf der Stelle wie ein bockiges Kind, das in der Supermarktschlange keinen Schokoriegel bekommt. Shilan hockt am Boden, beide Arme um ihre Taille gelegt, und weint. Sahin steht wie erstarrt, eine Faust zwischen seinen Zähnen.
Als Gregor in den Gastraum wankt wie ein Betrunkener, bleich und mit wirren Haaren, trifft ihn unser aller Hass wie eine Lanze. Er beugt sich vornüber und hält sich den Leib, als umarme er sich selbst.
„Du Arsch“, sagt Sahin leise und bedrohlich. „Du verdammter Arsch.“
Gregor wimmert.
„Lass ihn.“ Shilan streckt eine Hand nach Sahin aus, doch dieser schlägt die Hand weg und mustert sie aus flammenden Augen, sodass Shilan wieder in sich kriecht wie eine Schnecke in ihr Haus.
„Du Feigling!“, brüllt Sahin Gregor an. „Du hast ihn verrecken lassen!“ Dann bricht er in Tränen aus.
„Wir haben ihn verrecken lassen“, sage ich heiser. „Wir sind alle schuld.“
„Ich nicht“, schreit er mich an.
„Nein, du nicht.“
Meine Stimme versagt, deshalb wende ich mich ab und schleppe mich zu einer Tischgruppe weit weg von Alex Leiche, sinke tief in einen Stuhl und mustere Alex aufgedunsenes Gesicht. Es ist starr und wächsern, noch immer von Terror und Panik gezeichnet. Ich denke an seine Eltern, an Filimons Eltern, an Heikes Kinder, möchte mein eigenes Gesicht in meinen Armen vergraben und losheulen. Ich wage es nicht, denn ich weiß nicht, was passiert, wenn ich loslasse. Stattdessen kneife ich mir in die Nasenwurzel, dränge aufsteigende Tränen zurück und schniefe, denke an die Windschutzscheibe, die Alex putzen wollte. Seltsamerweise beruhigt der Gedanke mich.
„Reißt euch zusammen“, bringe ich schließlich heraus. Ich klinge, als wäre ich im Stimmbruch und noch dazu erkältet.
Drei verheulte Augenpaare schnellen zu mir. Gregors verhangener Blick hebt sich einen Lidschlag später. Ich räuspere mich. „Wir müssen nachdenken. Was machen wir jetzt?“
Niemand antwortet. Alle starren mich nur an.
„Wir können nicht fliehen“, füge ich hinzu, „zumindest nicht planlos.“
„Rettungsdienst“, schlägt Gregor matt vor.
„Okay, versuch’s noch mal.“
Er verschwindet mit schweren Schritten in Richtung seines Büros. In der letzten Stunde scheint er um Jahre gealtert.
„Wir sollten alles dicht machen.“ Hennis Augen sind verquollen, aber sie hat sich wieder unter Kontrolle. „Fenster, Türen, Schwellen. Alles überprüfen. Am besten packen wir was auf die Fensterbretter. Nasse Handtücher oder so.“
Ich nicke. „Wir tränken sie in Essig. Mischen Essigwasser. Sprühen das überall hin.“
Shilan steht auf. „Meine Mutter macht das gegen Mücken. Schwämme mit Essig. Ich kümmere mich darum. Sahin, hilfst du mir?“
Es ist ein Friedensangebot, das sieht jeder. Sahin bohrt seine Augen in ihre, seine Lippen pressen sich aufeinander. Aber er nickt.
Einen Augenblick später bin ich mit Henni allein.
„Wir sollten die Ventilatoren eingeschaltet lassen, die Klimaanlage kühler stellen“, sagt sie.
„Gibt keine. Umweltschutzbestimmung.“
„Mist. Insekten hassen Kälte.“
„Wir könnten in die Kühlkammer kriechen.“
„Da schaffen wir die Leichen hin. Das hattest du doch im Sinn. Vorhin im Keller.“

Überall stinkt es nach Essig und Kaffee. Wir waren fleißig in den letzten drei, vier Stunden. Haben Backbleche mit Kaffee befüllt und diesen angezündet, haben aus Backpapier künstliche Wespennester geknüllt und aufgestellt, sämtliche Fensterbretter und Türschwellen mit essiggetränkten Handtüchern verstopft, mit Essigwasser besprühte Bettlaken und Tischdecken vor die Scheiben gespannt und vor die Ventilatoren gehängt.
Jetzt sitzen wir hier drinnen wie in einer Höhle. Draußen brummt es, als setze ein Jet zur Landung an. Hin und wieder hört man Motorenlärm, aber es ist nicht das konstante Rauschen der Autokolonnen. Manchmal rumst es in der Ferne. Kurz darauf blöken Hupen und Menschen schreien. Ununterbrochen prasseln Insekten gegen die Scheiben wie Reiskörner. Mit hängenden Lidern höre ich ihren Kamikaze-Manövern zu. Was man nicht hört - und das martert mich - ist das Geheul von Sirenen.
Auch aus der Küche brummt es. Die Kühlschränke und die Kühlkammer arbeiten auf Hochtouren. Irgendwo tropft ein Wasserhahn, vermutlich derselbe, den Thomas repariert hatte, und für einen Augenblick gestatte ich mir, an Regen zu denken. Einen Starkregen, der Hitze und Schwüle und Dreck und das Ungeziefer vom Himmel drischt, sie auf die Erde schleudert und zermalmt. Dann schweifen meine Gedanken zu Thomas. Meine Finger verkrampfen sich ineinander und meine Eingeweide revoltieren. Um mich abzulenken, luge ich zwischen Tischdecken hinaus, sehe den Parkplatz verschwommen, bilde mir ein, dass der Himmel dunkler geworden ist. Wahrscheinlich Wunschdenken, aber irgendwie sieht das aufgetürmte Grau am Horizont anders aus als die schwarzen Schwarmwolken. Innerlich bete ich für Regen, für eine Sturmfront, für Sommerhagel, bevor die Viecher uns auffressen wie Heike, Filimon und Sven, deren Körper ich nur noch als konturenlose Klumpen ausmachen kann.
Bevor wir uns hier drinnen gegenseitig an die Kehle gehen.
Sahin hat einen Eimer mit alter zäher Farbe gefunden und mit ihr die Löcher und Spalten im Mauerwerk bestrichen. Gregor hat ihn deswegen zurechtgewiesen und etwas von Vandalismus gemurmelt. Sahin hat ihm stumm den Mittelfinger entgegengestreckt. Shilan hat dicke Streifen Klebeband über die Fliegengitter geheftet. Auch das hat Gregor beanstandet. Shilan hat ihn hohläugig angesehen und ein Wort in einer fremden Sprache gezischt. Niemand hat es verstanden, aber jedem war klar, dass es ein Schimpfwort war. Sollten wir aus dieser Hölle jemals herauskommen, wird das alles ein Nachspiel haben. Nicht, dass es irgendeinen von uns juckt. Jobs und Anweisungen sind einem ziemlich egal, wenn eine Milliarde tödlicher Insekten auf dein Blut lauert.
Sahin und Shilan mustern einander mit düsteren Blicken über ihre Getränke hinweg. Ich habe verdünnten Saft serviert, außerdem das bereits vorbereitete Obst, und mir strafende Blicke von Gregor eingefangen. Ich habe sie ignoriert und den Saft in Gläser gegossen, damit wir sehen, was wir trinken. Jede Frucht habe ich akribisch untersucht. Ich weiß, dass Wespen auf Zucker abfahren, aber buchstäblich alles, was wir hier anbieten, enthält Zucker, außer vielleicht die angewelkten Salatblätter oder Trockennudeln.
Immerhin wird die Erfrischung unsere Energiespeicher auffüllen, denn abgesehen von Gregor, der aufgekratzt aus seinem Büro zurückgekehrt ist, sehen wir völlig fertig aus. Gregor hingegen vibriert geradezu, wirkt überdreht.
„Und nun?“, fragt er. „Sitzen wir einfach herum und drehen Däumchen?“
Ich bequeme mich zu einer Antwort, als niemand etwas erwidert. „Ja. Wir sitzen das aus. Warten auf Hilfe oder auf einen Wetterumschwung.“
„Das ist alles?“
„Wir müssen die Leichen wegräumen“, sagt Henni. Sie hatte keine Beziehung zu Alex oder Thomas, deshalb fällt es ihr leichter, über die beiden zu sprechen. „Sie liegen seit Stunden hier. Sie locken noch mehr Ungeziefer an.“
„Außerdem sind sie kein besonders appetitlicher Anblick.“ Shilan schaudert sichtlich, vermeidet es, auf Alex wächsernes Gesicht zu schauen.
Sahin verschränkt die Arme vor der muskulösen Brust. Auf seinen Zügen malt sich Abscheu. „Wir könnten ihn auch in den Keller schaffen. Da ist es recht kühl.“
„Sie locken Ungeziefer an“, wiederholt Henni. „Und sie werden anfangen zu stinken.“
„In den Kühlraum“, beschließe ich und will mich erheben, doch Gregor explodiert, faselt von Hygiene und dem Ärger, den er bekommen wird.
„Gregor“, sage ich müde, während Sahin die Fäuste ballt und Blitze aus seinen Augen schießen, „halt einfach deine Fresse.“
Er schnappt nach Luft. Dann bohrt er den Zeigefinger in die Luft vor mir, faucht und droht. Mit Kündigung, mit Anwalt, mit Nachspiel.
Shilan gelingt es kaum, ihn zu beruhigen. Ich lasse ihn blubbern, sehe ihm stumm beim Gestikulieren zu, fokussiere auf seine Lippen, die sich kringeln wie Raupen.
„Wie lange kokst du schon?“, frage ich, als er zwischendurch Luft holt.
Er hält mitten in der Bewegung inne. „Was?“
„Ich denke, das wird deinen Anwalt und Hasi interessieren. Das Management ebenfalls. Dass du auf der Arbeit Koks ziehst. Oder was Billigeres.“
Er starrt mich mit offenem Mund an. „Spinnst du?“
„Mann“, mischt Sahin sich ein. „Das sieht ein Blinder, dass du drauf bist.“
Gregor beachtet Sahin nicht, fixiert weiterhin mich. Vorher ist mir nie aufgefallen, wie hell seine Augen leuchten. „Drohst du mir?“, fragt er leise, mit einem Unterton in der Stimme, den ich als potenziell gefährlich einstufe.
„Nein“, entgegne ich. „Ich wollte nur auch mal was sagen.“ Ich beuge mich vor. „Komm runter, Gregor. Diese scheiß Raststätte hier interessiert niemanden. Dein Gegeifer interessiert niemanden. Es ist nicht wichtig, verstehst du? Wie wir lebend hier rauskommen, ist wichtig. Um alles andere können wir uns später kümmern.“
Er sieht mich an. In seinen Gliedern zuckt es vor unterdrückter Anspannung. Dann holt er tief Luft und lässt die Handflächen auf den Tisch krachen. „Okay. Ich bin trotzdem dagegen, hier nur rumzusitzen. Ich will was tun.“
„Und was?“, fragt Shilan matt. „Die da draußen sind klar in der Überzahl.“
Gregor springt auf, fährt mit beiden Händen die Hosenbeine hoch und runter, als wolle er Energie ableiten oder Schweiß abwischen. Seine Zunge wandert zwischen seinen Lippen hin und her. „Decken. Ich hänge mir Decken um. Oder Bettlaken. Eingesprüht mit Essig und Reinigungszeug. Alles, was stinkt. Ich renne zu meinem Auto und fahre zum Hintereingang. Ihr hüpft rein und ab.“
„Wir quetschen uns zu fünft in deinen Mini?“, fragt Sahin.
„Ist ein Countryman“, erwidert Gregor, als erkläre das irgendwas.
„Du spinnst doch“, sagt Shilan. „Hast du vergessen, was mit den anderen passiert ist?“
„Für Filimon wolltet ihr nicht einmal die Tür aufmachen und jetzt willst du da raus?“, fügt Sahin mit bitterer Stimme hinzu. „Das Koks muss echt gut sein.“
Ich registriere, wie Shilan zusammenzuckt, als er Filimons Namen nennt.
„Und dann?“, fragt Henni, die sehr wenig gesagt hat in den vergangenen Stunden. „Wohin willst du? Die Insekten sind überall in größerem Umkreis. Du siehst kaum was. Da draußen passieren ständig Unfälle. Hier drin sind wir sicherer. Meiner Meinung nach.“
Ich sehe die Gänsehaut auf ihren Armen, als sie sie vor der Brust verschränkt. Wahrscheinlich denkt sie an ihre Erlebnisse.
„Sehe ich auch so“, stimme ich ihr zu. „Warten wir lieber.“
„Wie lange?“, sagt Gregor laut. „Bis die Fenster splittern? Oder die Mordsviecher beschließen, die Stromkabel zu fressen? Sie nagen sich durch die Fliegengitter, Herrgott!“
Sahin stößt ein Schnauben aus. „Die waren einfach marode.“
„Die Mauern auch? Was ist, wenn der Strom ausfällt, hä? Dann geht hier alles aus und es wird so heiß wie draußen!“
„Kein Notstromaggregat?“, fragt Shilan bang.
Gregor lacht auf. Es ist ein gemeines, keckerndes Lachen. „In fucking MeckPomm? Come on! Wir sind doch kein Krankenhaus.”
„Lasst uns nicht das Schlimmste annehmen“, beschwört uns Henni.
„Das sagst ausgerechnet du. Du bist doch mit diesen Hiobsbotschaften hier hereingeschneit.“ Gregor schüttelt den Kopf und schaut die schmale Frau an, als sei der Wahnsinn da draußen ihre Schuld.
Henni hebt beide Hände, lässt sie gleich darauf wieder fallen. „Bitte. Tu, was du nicht lassen kannst.“
Gregor nickt, sieht uns der Reihe nach an. „Wer ist dabei?“
Niemand meldet sich.
„Lass es“, bittet Shilan ihn. „Das ist Selbstmord.“
Unser Vizechef zögert merklich, strafft sich dann jedoch. „Hier drin zu hocken, ist schlimmer. Und wie lange überhaupt? Tage?“
„Kann sein“, erwidert Shilan. „Aber hey! Wir haben genug zu essen und zu trinken, Klos, sogar Betten. Genug Platz, um uns aus dem Weg zu gehen. Bücher, Zeitschriften, Fernseher. Ventilatoren. Zigaretten, Alkohol. Wir können Party machen“, schiebt sie mit einem verzerrten Grinsen und hochgereckten Daumen hinterher.
Gregor schnaubt. „Super. Aber ich feiere lieber mit meinen Freunden.“
„Autsch“, sagt Sahin und krümmt sich, als hätte er einen Schlag in die Magengegend erhalten.
Gregor stöhnt. „So war das nicht gemeint. – Ich präpariere mich dann mal.“
Seufzend reibt Shilan sich die Augen. „Decken sind in den Zimmern, Essigwasser in der Spüle.“
Gregor verschwindet. Er vermeidet es, uns noch einmal anzuschauen.
„Dem geht das Koks aus“, stellt Sahin fest. „Deswegen will er weg.“
Ich hatte denselben Gedanken und nicke.
„Lassen wir ihn gehen?“, fragt Shilan.
„Wieso nicht?“, entgegnet Sahin. „Ist seine Wahl. Er ist erwachsen.“
„Wir schicken ihn in eine Gefahr. In den Tod vielleicht.“ Den letzten Satz flüstert sie, als enthielte er etwas Verbotenes.
„Wir schicken ihn gar nicht. Im Gegenteil.“
„Aber wir lassen es zu.“
Meine Gedanken schweifen ab, während die beiden streiten und das Brummen hinter den paar Zentimetern Scheibe anhält. Die Fenster ruckeln bei jedem Aufprall einer Insektenschwadron. Mit einem Mal überfällt mich nackte, bodenlose Angst. Ich stelle mir vor, wie die Scheiben nachgeben, wie der Schwarm in den Gastraum drängt, mich einhüllt, mich erstickt. Henni muss mir die Angst angesehen haben, denn sie legt mir eine Hand auf den Arm, streichelt mich sacht.
„Wir schaffen das“, murmelt sie.
Wenn ich ihr nur glauben könnte.
Ich schlucke Angstspeichel hinunter und begegne meiner Furcht, indem ich erneut zwischen den Tischdecken nach draußen luge. Das Glas ist gesprenkelt mit Kadavern, einige winzig klein und kaum mehr erkennbar, andere größer. Schwärme kreisen über dem Parkplatz, so weit das Auge reicht. Manchmal spalten sich Formationen ab und drehen eigene Runden, dann wieder vereinigen sich alle zu einem monströsen Wirbel, der in furchterregender Schönheit über den Himmel tanzt. Dazwischen Wolken, eindeutig Wolken, richtige Wolken. Ich strenge meine Ohren an, lausche auf Gewittergrummeln, höre jedoch nur Rauschen, Summen, Brummen, Sirren. Und das enervierende Klatschen gegen die Scheibe. Als wüssten sie, dass wir hier drinnen sitzen. Als begehrten sie Einlass.
„Wir können ihn nicht rauslassen“, raune ich, laut genug, damit Shilan und Sahin verstummen.
„Sag ich doch“, stimmt Shilan zu.
„Du verstehst nicht, was ich meine.“ Ich lasse die Tischdecke zurückgleiten und sehe sie an. „Wir können die Tür nicht öffnen. Keine Tür, verstehst du? Sobald wir öffnen, greifen sie uns an.“
Shilan und Sahin runzeln die Stirn. „Du kannst ihn nicht gegen seinen Willen hier festhalten“, sagt Sahin schließlich.
„Wir können nicht riskieren, dass die Viecher hier hereinkommen. Die sind wie eine Wasserwand! Sobald wir aufmachen, haben wir verloren.“
„Jetzt übertreibst du“, entgegnet Sahin.
„Wir stellen uns mit den Staubsaugern in Position“, schlägt Shilan vor. „Oder lenken die Biester ab.“
„Womit denn?“, erwidere ich. „Sirup? Weintrauben? Das lenkt vielleicht zehn, zwanzig ab.“
Henni gibt sich einen Ruck. „Ines hat recht. Es ist zu gefährlich. Für ihn und für uns alle. Es ist eine beknackte Idee.“
Wir hören Geräusche und wissen, dass Gregor aus den Zimmern zurückkehrt. Schweigend breitet er zwei Decken auf dem Tresen aus und läuft in sein Büro. Kurze Zeit später ist er wieder bei uns und legt einen Rucksack ab. Dann geht er mit den Decken in die Küche, taucht sie in das Spülbecken. „Ich glaube, ich brauche gar keine anderen Chemikalien“, ruft er. „Essig reicht dicke. Stinkt wie sau.“
Gleich darauf steht er, mit tropfenden Decken behängt, neben dem Tresen und angelt nach dem Rucksack. Er sieht aus wie ein Yeti.
„Ist das wirklich dein Ernst, Mann?“, fragt Sahin. „Das schränkt dich voll ein. Wie willst du ins Auto kommen? Wie fahren?“
„Nur ein Stückchen“, schnauft Gregor. „Kann ja dann anhalten. Wird eklig so nass, aber na ja. Letzter Aufruf, Leute.“
Abwartend blinzelt er uns unter den Decken hervor an.
Ich stemme mich aus meinem Sitz. „Du kannst nicht da raus“, sage ich, um eine feste Stimme bemüht.
Er verdreht die Augen. „Das hatten wir doch schon. Meine Entscheidung. Ich schicke trotzdem Hilfe, versprochen.“
Shilan tritt ihm entgegen. „Was sie meint, ist, dass wir dich nicht gehen lassen können. Wir können die Tür nicht aufmachen.“
Gregor stutzt, dann lacht er. „Willst du mich festhalten?“
Shilan stemmt die Arme in ihre Hüften und macht sich größer. „Wenn es sein muss. Sorry, aber es geht nicht anders. Das ist zu gefährlich.“
Auch Sahin hat sich erhoben und ist um Gregor herumgegangen. Nun steht er hinter ihm.
Gregor beäugt ihn aus dem Augenwinkel. „Was wird das? Kesselt ihr mich ein?“
„Mann“, sagt Sahin. „Lass es einfach bleiben, ja? Wir wollen keinen Stress. Wir sollten zusammenhalten.“
„Was, wie Brüder? Red keinen Scheiß, Kleiner.“ Gregor tritt Sahin entgegen. Schlaks gegen Muskelpaket. Doch der Schlaks wirkt jetzt irgendwie größer, weniger wie ein Sesselfurzer. Seine Augen funkeln schwarz, beinahe wie die von Bens Kater, wenn dieser im Jagdfieber war. Ist es das Koks, das Gregor mutig macht, oder ist es die Angst, das Gefühl der Ausweglosigkeit? Jedenfalls liegt Ärger in der Luft und so will ich zwischen die beiden treten, aber Shilan ist schneller. Plötzlich steht sie so dicht neben Gregor, dass die nasse Decke Flecken auf ihrem T-Shirt hinterlässt. „Wir sind zu viert“, warnt sie mit leiser Stimme. „Setz dich einfach wieder hin.“
„Leck mich.“ Gregor schubst Shilan gegen Sahin, macht einen Ausfallschritt und sprintet zur Hintertür.
Es dauert einen Herzschlag, bis wir anderen begreifen und ihm nachsetzen.
An der Tür setzt planloses Gerangel ein. Gregor klammert sich an die Klinke, schiebt und schnauft, Shilan hängt an seinem Arm, seinem Rücken, zerrt und zieht. Sahin reißt Gregor den Rucksack aus der Hand und die Decken von Kopf und Schultern. Die Decken sorgen für zusätzliches Chaos. Sie behindern mich und Henni. Essiggestank raubt mir die Luft und irgendwie erwischt mich Gregors fuchtelnder, langer Arm am Kinn und ich schwanke zurück.
Gregors akkurate Frisur ist in sich zusammengefallen. Nasse Strähnen kreuzen sich auf seiner Stirn. Seine Kleidung ist genauso verrutscht. Mit wildem Blick schaut er zu mir, erschrocken beinahe, weil ich mir das Kinn halte. Dann kracht Sahins Faust auf sein Ohr und er schreit auf. Vergisst die Tür und seine Flucht, geht stattdessen auf Sahin los. In der Enge nützen Sahin seine Muskeln nicht viel. Gregor schwingt seine Arme wie Dreschflügel, blindlings und kraftvoll. Sahin duckt sich mehr, als dass er angreift, versucht auszuweichen, stolpert gegen mich und Shilan, die nun brüllt und spuckt und weiterhin die Tür verteidigt. Auch die Tür zittert. Sie ist verhängt und ich sehe nicht viel, aber ich höre wütendes Summen, spüre den Wahnsinn der Insekten.
Gleich darauf wird Shilan gegen die Tür geschubst, ob von Gregor oder Sahin, ist nicht genau zu erkennen. Die Tür bebt in ihrem Rahmen und hinter dem Vorhang wächst der Lärm.
„Geh von der Tür weg!“, rufe ich Shilan zu. „Weg von der Tür!“
Hinter mir macht Henni auf dem Hacken kehrt und verschwindet.
Shilans Ellenbogen kracht gegen den Vorhang, drückt in das Glas. Ich höre ein Knirschen. „Die Scheibe!“, schreie ich und greife gleichzeitig nach Sahin und Gregor, erwische Gregors Hemdzipfel. Der Stoff reißt, zwei Knöpfe springen davon.
Gregor schreit mir Schimpfworte ins Gesicht. Auf seiner geröteten Stirn pulsiert eine dicke Ader. Dann rast seine Faust auf mich zu, die Sahin jedoch abfängt. Die beiden rangeln keuchend, während Shilan die beiden beobachtet wie eine Raubkatze ihre Beute im Savannengras.
Plötzlich ist Henni zurück, kommt aber nicht an mir vorbei, weil das Knäuel aus Gregor und Sahin mich in diesem Moment nach hinten drückt. Henni wirft Shilan etwas zu, das diese ungeschickt fängt.
„Nein!“, rufe ich, als ich das Küchenmesser erkenne, doch Shilan zögert nicht. Kaum kann sie das Heft einigermaßen halten, stößt sie die Klinge in Gregors Leib. Sie zielt nicht einmal, sondern sticht einfach irgendwohin.
Schlagartig ist der Kampf vorbei.
Grunzend lässt Gregor die Arme sinken, mustert seinen Bauch und schaut verwundert auf.
Sahin stolpert mit aufgerissenen Augen zurück. Die Klinge steckt in der Nähe des Magens, vermute ich. Genau zu sehen ist das nicht, weil das Hemd Gregors Haut verdeckt.
„Au“, bringt Gregor heraus, dann sacken seine Beine weg und er rutscht an der Wand hinunter.
Ich schnelle zu Henni herum. „Spinnst du? Ein Messer?“
Henni ist weißer als die Wände um uns. Ihre Lippen zittern. „Sie sollte ihn nur bedrohen“, flüstert sie. „Ihn einschüchtern. Nicht zustechen.“ Sie richtet ihren Zeigefinger auf die Hintertür. „Ich wollte nicht, dass die Scheibe zerbricht. – Es tut mir leid.“ Ihre letzten Worte sind an Gregor gewandt, der jetzt flach atmend am Boden liegt, mit beiden Händen das Messerheft umklammernd.
Shilan ist zur Salzsäule erstarrt. Ihre Arme hängen zu beiden Seiten herab. Lose, lange Strähnen dunkelbraunen Haares verdecken ihr Gesicht. Sahin beugt sich zu Gregor, augenscheinlich um ihm zu helfen. In diesem Moment knirscht die Scheibe erneut und es beginnt, leise zu knacken. Der Deckenvorhang gerät in Bewegung. Winzige Wellen breiten sich auf ihm aus.
Kollektiv schreien wir auf. Shilan kommt zu sich, patscht mit beiden Händen auf den Vorhang, drückt sich gegen ihn.
„Nicht!“, rufen Henni und ich wie aus einem Mund.
Der Vorhang löst sich und fällt zu Boden. Die etwa mannshohe Scheibe ist bedeckt mit einem schwarz-gelben wuselnden Insektenteppich. Kratzer verlaufen kreuz und quer unter der Masse der durchgedrehten Biester. An den zwei, drei Stellen, an denen die Kratzer zu dünnen Rissen werden, quetschen sich Wespen hindurch, landen zum Glück, verendet durch das Gewicht der nachrückenden Leiber und Schnittkanten, auf dem Boden.
„Halt sie auf!“, schreit Sahin und lässt von Gregor ab. „Verdammt, Shilan, mach was! Halt sie auf!“
„Hilf mir!“, brüllt Shilan zurück.
Und während Sahin konfus durch den Gang flattert, schaltet Shilans Verstand gnadenlos logisch. Sie reißt Sahin am Arm zu sich heran, schleudert ihn gegen die Scheibe und presst ihn dagegen.
Sahin kreischt in Angst und Panik.
„Komm her!“, ruft Shilan Henni zu, die das Ganze wie benommen beobachtet. „Drück mit mir gegen.“
Henni gehorcht wie unter Zwang, vielleicht auch, weil sie realisiert, dass Shilans Plan zwar perfide und unmenschlich ist, vermutlich aber unser Leben rettet. Also drückt sie sich ebenfalls gegen den jungen Türken. Sahins Körper verhindert, dass weitere Insekten durch die ausgefransten Löcher ins Innere dringen.
„Panzertape“, ruft Shilan mir zu. „Unter der Spüle. Schnell!“
Meine Beine sprinten los, noch bevor mein Verstand den Befehl verarbeitet. In der Küche presche ich um die Ecke, gleite auf den Fliesen aus, schlittere zur Spüle. Ich bemerke den Schmerz kaum, reiße das Unterschränkchen auf, grapsche nach dem Klebeband.
Als ich zurückkehre, höchstens eine Minute später, liegt Gregor mit geschlossenen Augen auf der Seite. Sahin zappelt wie verrückt, aber mit halber Kraft, als wüsste er trotz Hysterie und Panik noch, dass er sich nicht zu sehr gegen die Scheibe lehnen, sich nicht von ihr abstoßen kann.
„Bleib cool“, sagt Shilan zu ihm. „Gleich ist es vorbei.“
Während Henni Sahin festhält, reiße ich Streifen um Streifen von dem Klebeband ab und reiche es Shilan. Diese beugt sich um Sahin herum, verklebt großflächig Risse und Löcher, löst nacheinander behutsam Sahins Gliedmaßen vom Glas, schlägt auf die Wespen, die es geschafft haben, ins Gebäude zu gelangen.
Sahin sackt zusammen, sobald die Frauen ihn loslassen. Henni und ich führen ihn weg von der Tür. Indessen klebt Shilan weiterhin Tape über die Scheibe. Als sie sicher ist, dass die Scheibe hält, befestigt sie die Decke wieder davor, verschließt die Ränder sorgfältig mit Panzertape.
Sahin sieht fürchterlich aus. An drei Stellen sind Wespen durch die Scheibe gekrochen und haben ihn attackiert. Die Stiche rund um sein Knie sind durch seine Hose abgemildert worden, dennoch sieht man deutlich, wie die Schwellung den Stoff ausbeult. Sein linker Oberarm ist ballonartig angeschwollen und scheint sehr zu schmerzen, denn bei der geringsten Bewegung stöhnt Sahin.
„Krass“, sagt Henni, beißt sich gleich darauf auf die Lippen und bemüht sich um einen sachlicheren Tonfall. „Das waren nicht nur Wespen. Ich tippe auf Hornissen.“
„Oje“, erwidere ich. „Meine Großmutter behauptete immer, sieben Hornissen könnten ein Pferd töten.“
„Blödsinn“, entgegnet Henni. „Hornissen sind eigentlich friedlich.“
„Hm. Sahin wirkt irgendwie weggetreten.“
„Kein Wunder. Wer weiß, wie viele Stiche er hat. Auf jeden Fall hat er eine Menge Gift im Organismus. Dazu die Panik.“
Sie erschlägt eine einzelne Wespe, die aus Sahins T-Shirt kriecht. Danach dreht sie vorsichtig Sahins Kopf und flucht unterdrückt.
Ich rücke näher und zucke zusammen. Wespen haben sich über sein rechtes Auge hergemacht. Wegen der Beulen, die seine Augenhöhle verschwinden und ihn aussehen lassen wie eine Mischung aus Quasimodo und dem Elefantenmenschen, kann ich nicht viel erkennen, aber mir scheint, als liefe Flüssigkeit über seine Wange.
„Ist das sein Augapfel?“, frage ich und schlucke laut.
Henni verzieht das Gesicht. „Ich hoffe, dass sein Auge nur tränt.“
Schweigend betrachte ich die verklebten Lider, die Schwellung, die sich bis zu Nasenflügel und Ohr ausbreitet.
Shilan kniet sich neben uns und stupst Sahin an. „Hey. Alles klar?“
„Nichts ist klar“, zische ich sie an. „Schau ihn verdammt noch mal an!“
Sie schnellt zu mir herum. „Mir ist schon klar, dass er gestochen wurde.“
Zerstochen, meinst du wohl.“
„Hattest du eine bessere Idee?“
Sie schleudert die Frage von sich, aber unter der empörten Heftigkeit liegt eine gewisse Abgebrühtheit. Ein unsichtbares Achselzucken. Pragmatische Logik, doch skrupellos und menschenverachtend. Das macht mich sprachlos und lässt mich von Shilan abrücken.
Shilan räuspert sich, als sei ihr soeben aufgegangen, wie hartherzig sie klingt. Erneut wendet sie sich an Sahin, dessen intaktes linkes Auge durch uns hindurchschaut. „Sollen wir dich zu einem Bett schaffen? Kühlpacks holen? Was zu trinken?“
Sahin reagiert nicht. Erst als wir ihn zu dritt hochziehen und ihn stützen, gibt er eine Art Grunzen von sich.
„Was ist mit Gregor?“, frage ich.
„Bleib bei ihm“, sagt Henni. „Ich bin gleich zurück.“


Gregors Finger sind von dem Messer geglitten, seine Hände liegen schlaff neben ihm. Ich sehe wenig Blut. Ich weiß, dass die Klinge die Wunde verschließt und ich sie nicht herausreißen darf, auch weil sonst Dreck in die Wunde gelangen kann. Andererseits, sinniere ich, war die Messerklinge selbst nicht klinisch sauber. Und sie steckt zwanzig Zentimeter tief in seinem Fleisch.
„Scheiße“, sage ich halblaut und schlage meinen Kopf gegen die Wand.
Gregor reagiert nicht, auch nicht, als ich das Panzertape nehme, um das Messer fest an seinen Körper zu kleben, damit er es nicht aus Versehen aus der Wunde reißt. Ich krieche näher an Gregors Gesicht heran, lege mein Ohr an seinen Mund, eine Hand auf seinen Brustkorb. Ich glaube, er atmet noch, aber sicher bin ich mir nicht. Da er bereits auf der Seite liegt, hebe ich nur sein Kinn weit in den Nacken und schiebe seine Hand unter seine Wange. Dann erinnere ich mich, dass Erbrochenes oder sogar Spucke einen Bewusstlosen ersticken kann. Ich öffne Gregors Mund, indem ich auf seine Kiefer drücke, überwinde mich und schiebe meine Hand in seinen Rachen. Gregor würgt ganz leicht und Tränen schießen mir in die Augen.
„Er ist nicht tot“, sage ich Augenblicke später zu Henni, die mit einer Bettdecke zurückkehrt. „Aber ansprechbar ist er auch nicht.“
Henni breitet die Decke über Gregor. „Er ist so blass.“
„Wir sollten ihn nicht bewegen, oder? Damit das Messer drin bleibt?“
„Glaube ich auch. Aber wir sollten ihn warmhalten.“
„Hast du Ahnung von Erster Hilfe?“
„Nicht mehr als die meisten. Alle paar Jahre einen Auffrischungskurs, doch wer merkt sich das schon? Gibt es nicht so einen Plan, was man machen muss?“
„Toilettenflügel. Habe alles gemacht außer Hilfe rufen. 112.“
„Das versucht Shilan gerade. Bisher ohne Erfolg. Alle Leitungen sind tot.“
„Knabbern die Viecher sie durch?“ Mir kommt meine eigene Frage bescheuert vor, aber angesichts der verdunkelten Scheibe und des Brummens draußen ist sie wohl gestattet.
„Ich denke eher, die Leitungen sind überlastet. Was mir ehrlich gesagt richtig Angst macht. Scheint, als wäre das hier kein singuläres, lokales Problem.“
„Wie in einem alten Horrorfilm? Insekten vernichten die Menschheit?“
Henni boxt mich, bevor ich anfange, wie blöd zu kichern. „Hör auf. Wir brauchen einen klaren Kopf. Du scheinst mir von allen hier die Normalste.“
„Wie kommst du darauf?“
„Du beobachtest. Denkst, bevor du was sagst.“
„Ich habe verdammten Schiss!“
„Logo. Doch du kannst deine Angst unterdrücken, das merkt man.“ Sie weist auf Gregor. „Du bist nicht so kopflos wie wir anderen.“
„Sahin ist nicht kopflos, Shilan auch nicht.“
„Du handelst rational, aber nicht völlig emotionslos wie Shilan.“ Den Namen stößt Henni als raues Flüstern aus und schaut sich um, als hätte sie Angst, von Shilan erwischt zu werden.
„Shilan ist die gute Seele hier, ehrlich. Sie kümmert sich um jeden.“
„Am allermeisten um sich selbst. Was zugegeben menschlich ist. Ich will auch nicht draufgehen“, gesteht Henni. „Aber wo ich feige bin, mich verstecke oder abhaue, opfert sie kaltblütig Menschen.“
„Du übertreibst.“
„Erzähl das deinem Boss.“
„Vizeboss.“
„Von mir aus.“ Ungeduld macht sich in Henni bemerkbar. „Ich wollte ihn wirklich nur einschüchtern. Weil ich so aufgelöst war. Sie hat ihn abgestochen. Hat Sahin als menschlichen Schild genommen. Hat den kleinen Schwarzen nicht hereingelassen.“
„Fili.“ Ich schlucke hart und schließe die Augen.
„Sie ist gefährlich“, beschließt Henni ihre Ausführungen.
„Oder sie reagiert auf eine Extremsituation.“
„Das kommt auf dasselbe hinaus“, sagt Henni nach kurzem Nachdenken. „Wir müssen vor ihr auf der Hut sein.“
Ich rappele mich auf. „Wir sind hier nicht bei Shining. Shilan ist nicht Jack Nicholson. Sie wird uns nicht abmurksen, weil sie einen Lagerkoller hat. Wir suchen uns jetzt alle drei ein Plätzchen und warten, bis die Situation unter Kontrolle ist. Wenn niemand von uns mehr querschießt, sollte nichts passieren. Aber vorher schaffen wir Alex und Thomas in die Kühlkammer.“
„Und ihn lassen wir hier liegen?“
„Wir schauen, dass immer eine bei ihm bleibt und eine bei Sahin. Die dritte hält Wache, behält alles im Auge. Aber jetzt muss ich erst mal aufs Klo.“


Auf der Toilette kriegt mich der Schock. Ich fange an zu zittern und muss mich an den Kabinenwänden festhalten, damit ich nicht von der Brille rutsche. Alle Kraft wird aus meinem Körper gesaugt. In meinem Bauch rumort es und eiskalte Schauer laufen über meinen Körper. Schwindelwellen lassen mein Sichtfeld tanzen. Gesichter wirbeln durch meine Gedanken. Dann geben Magen und Darm gleichzeitig nach und der Schwindel verschwindet.
Kalter Schweiß steht auf meiner Stirn, als ich mich danach im Spiegel betrachte. Meine Lippen sind fast so blau wie mein Haar, ebenso meine Fingernägel.
„Sieben“, flüstere ich meinem Spiegelbild zu.
Wenn Sahin und Gregor es nicht schaffen, sind sieben Leute gestorben. An einem einzigen Tag, innerhalb weniger Stunden. Und das sind nur die, von denen ich weiß. Was ist mit Ben, meinen Freunden, den Resten meiner armseligen Familie? Was ist mit all den Menschen da draußen?
Immer noch kraftlos schleppe ich mich in den verwaisten, abgedunkelten Gastraum, in dem die Ventilatoren surren und kühle Luft verteilen. Ich schnüffele, bilde mir Leichengeruch ein. Kann das sein? Alex ist erst ein paar Stunden tot. Thomas vermutlich länger. Niemand von uns hat ihn gehört, fällt mir ein. Er muss doch geschrien haben, aber keiner hat es mitbekommen. Das macht mich unsagbar traurig, denn Thomas Tod hat etwas Einsames, Vergessenes.
Ich schiebe mich an Alex heran. Seine Kehle ist angeschwollen und seine Haut hat einen gräulichen Farbton angenommen. Die Farbe wirkt unnatürlich, ebenso die absolute Starre seines Körpers und seiner Züge. Seine Pickel scheinen verblasst, stechen dennoch hervor.
Ich brauche mehrere Anläufe, bis ich es schaffe, Alex unter den Achseln zu greifen, und weitere Versuche, um ihn die wenigen Meter in die Küche zu ziehen. Vor der Kühlkammer bin ich außer Atem. Alex ist dünn und nicht besonders groß, ein Fliegengewicht für einen Mann. Aber er ist so schlaff wie ein Mehlsack. Ein Fünfundsechzig-Kilo-Mehlsack. Mehr als ich selbst wiege.
Ich stemme ein Bierfass vor die Tür, damit sie nicht ins Schloss fällt, und schaue mich in der Kühlkammer um. Viel zu sehen gibt es nicht. Die Kammer ist ein kleiner, kahler Raum, abgesehen von Metallregalen an zwei Seiten. Hier lagern nur Fässer und Großpackungen Fleisch, Fisch und Gemüse. Die meisten Lebensmittel verstauen wir in den mannshohen Kühlschränken oder in Vorratsräumen.
Ich beschließe, Alex an die regalfreie Wand zu bugsieren, habe kurz ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn einfach so liegenlasse, mache mir bewusst, dass er Kälte und Einsamkeit nicht mehr spürt.
Beim Hinausgehen checke ich die Tür. Sie fällt automatisch ins Schloss, verriegelt aber nicht. Innen gibt es eine Klinke und den Schlüssel habe ich in der Hosentasche. Erstaunt realisiere ich, dass ich über diese Dinge vorher nie nachgedacht habe.


Auf der Schwelle zum Gastraum pralle ich mit Shilan zusammen, die mich misstrauisch mustert.
„Hab Alex in die Kühlkammer gebracht“, sage ich auf ihre stumme Frage hin und ärgere mich gleich darauf über die Rechtfertigung.
Über ihr Gesicht streicht Erleichterung, gefolgt von einem Lächeln. „Ah, gut. Sollen wir Thomas auch holen?“
„Wie geht’s Sahin?“
„Nicht so prickelnd.“ Sie wedelt mit einem Glas und geht zur Anrichte. „Hole ihm Nachschub.“ Nachdem sie eingegossen hat, hält sie inne. „Er hasst mich. Jetzt. Aber ich musste doch etwas tun.“ Sie formuliert den letzten Satz als Frage und schaut mich an, als warte sie auf Vergebung. Den Gefallen tue ich ihr nicht. Stattdessen wende ich mich ab. „Ich hole Henni. Thomas ist um einiges schwerer als Alex.“
Selbst zu dritt ist es Schwerstarbeit, den Hausmeister den Kellergang entlang und anschließend die Treppen hochzuhieven. Oben angekommen, verschnaufen wir.
„Was machst du eigentlich?“, fragt mich Shilan, als wir, die Hände auf unsere Oberschenkel gestützt, um Thomas stehen. „Also sonst so?“
„Nichts“, sage ich.
„Keine Kinder, kein Partner? Keine Hobbys?“
„Warum willst du das ausgerechnet jetzt wissen?“
Sie zuckt mit den Schultern. „Über irgendwas muss man ja sprechen, um sich von dem Irrsinn hier abzulenken. Ich weiß so gut wie nichts über dich, obwohl du schon so lange hier arbeitest.“
„Knapp drei Monate sind nicht gerade lang.“
„Lang genug für ein bisschen Tratsch unter Kolleginnen.“
Henni sagt nichts. Sie steht nur da. Ihre Blicke zucken zwischen uns hin und her. Sie checkt uns ab, denke ich. Vielleicht ist ihr eben bewusst geworden, dass sie über keinen von uns hier irgendetwas weiß. Sie ist gefangen mit Fremden.
„Ich bin Linguistin“, sage ich, mehr an Henni gewandt. „Habe ein bisschen in der Kommunikation und den Medien gearbeitet. Hat nicht wirklich hingehauen. Außerdem gab es im letzten Jahr ein paar persönliche Rückschläge und ich habe mich umorientiert.“
„Hierhin?“, fragt Shilan zweifelnd.
„Es ist ein Anfang. Ostsee statt Wannsee.“
„Und? Bereust du es?“
„Frag mich das, wenn das hier alles vorbei ist.“
Eine Sekunde lang grinsen wir uns an. Dann wuchten wir Thomas in die Kühlkammer neben Alex.
„Ich wünschte, wir könnten die anderen auch hierhin legen“, sagt Shilan. „Fühlt sich irgendwie anständiger an. Richtiger.“
Bedrückt schweigen wir, wissend, dass es außer Frage steht, Heike, Sven und Fili hereinzuholen.
„Später“, beschließt Henni schließlich.


Nach einem Glas Saft und einem Schokoriegel schauen Henni und ich nach Gregor, während Shilan sich mit frischen Kühlpacks auf den Weg zu Sahin macht.
Nach wenigen Blicken wissen wir, dass Gregor tot ist. Er liegt genau wie vorhin, aber etwas an ihm hat sich verändert. Als sei er starrer geworden, kälter und fester. Henni hebt ein Augenlid hoch. Das Auge blickt uns trüb an.
Ohne ein Wort zu sprechen, nimmt sie sein linkes Bein und ich sein rechtes. Sein Körper weist dieselbe schlaffe Trägheit auf wie der von Thomas und Alex. Auch Gregor ist schwer. Keuchend und schnaufend zerren wir ihn den Gang entlang zur Küche. Nachdem wir ihn in die Kühlkammer bugsiert und auf die beiden anderen geschichtet haben, legen wir uns auf den kalten Fliesenboden, unfähig, uns weiter zu bewegen.
„Número seis“, flüstert Henni und entschuldigt sich gleich darauf. Ich drehe den Kopf zur Seite und sehe eine Träne aus ihrem Augenwinkel laufen.
„Sechs Leichen“, sage ich. „Das ist so ... krass. Unvorstellbar. Ich bin in einem Albtraum. Einem richtig miesen Albtraum.“
„Wenn wir das hier überstehen, brauchen wir ein Leben lang Therapie.“
„Wenn noch Therapeuten übrig sind.“
Henni lässt ihren Arm zur Seite fallen, trifft meinen Bauch. „Hör auf. Es kann nicht überall so sein.“
„Ich hab es grummeln hören. Vorhin. Ein paar Stunden noch. Dann kommt ein Gewitter und wäscht die Schwärme weg.“
„Dein Wort in Gottes Ohr.“
Henni schmiegt ihren Kopf an meine Schulter, als würden wir uns schon ewig kennen. Die kleine Geste berührt mich, auch wenn ich körperliche Nähe sonst nur schwer ertrage.
„Welche Rückschläge?“, nimmt Henni unsere Unterhaltung von vorhin wieder auf.
Ich seufze. „Mein Freund und ich haben uns getrennt und meine Oma ist gestorben. Sie war sehr wichtig für mich.“
„Tut mir leid.“
„Hast du Familie?“
„Eltern und Geschwister, Neffen, eine Nichte. Ich mache mir Gedanken um sie. Verdammt!“
Sie nimmt den Kopf von meiner Schulter und presst ihre Knöchel gegen ihre Augen, unterdrückt ein Schluchzen. Ich überlege, ob ich etwas Tröstendes sagen oder sie umarmen soll, aber da platzt Shilan in die Küche und betrachtet uns verwundert.
„Was macht ihr auf dem Boden?“
„Gregor ist tot“, sage ich. „Wir haben ihn hergebracht.“
Shilan erblasst. Ihre Finger fahren an ihren Hals, streichen über ihre Kehle. „Es war ein Unfall“, sagt sie dann.
Ich rappele mich auf. „Nein. Das war Mord.“
„Doch nicht mit Absicht.“ Sie klingt, als wäre ihre Zunge betäubt. „Ich … Notwehr. Es war Notwehr. Unser Leben war bedroht.“ Ihre Augen zucken hin und her und ihre Stimme schnellt in die Höhe. „Ihr seid Zeugen. Ihr habt das gesehen. Sie hat mir das Messer gegeben!“ Anklagend weist sie auf Henni, die sie mit tränenverschmiertem Gesicht anstarrt.
„Das müssen andere entscheiden“, sage ich. „Polizei. Ein Gericht. Auf jeden Fall war es eine Extremsituation.“
„Spinnst du?“, faucht Shilan mich an. „Ich habe uns verteidigt. Unser Leben gerettet. Wage es ja nicht, anderes zu behaupten! Ihr dreht mir keinen Strick daraus, hört ihr?“
Eine neue Welle Müdigkeit schwappt über mich. „Man wird uns befragen, Shilan. Wir werden wahrheitsgemäß aussagen. Man wird all das hier berücksichtigen. Die Insekten, die Panik, Gregors Verhalten.“
„Ohne mich wären wir alle tot!“ Jetzt kreischt sie, dass mir die Ohren klingeln. Sie packt mich am Arm und rüttelt mich. Ihre Fingernägel graben sich in meine Haut. „Tot, verstehst du? Ihr anderen seid alle zu feige. Zu passiv. Jemand muss handeln, klar?“
„Klar“, sage ich, nehme ihre Finger und quetsche sie, bis sie meinen Arm loslässt und etwas in die Knie sackt. „Wie geht es Sahin?“, schiebe ich hinterher, während sie ihre Finger massiert.
„Keine Ahnung.“
„Keine Ahnung?“
Kleinlaut geworden, senkt sie den Kopf. „Er lässt mich nicht mehr rein. Hat gesagt, ich soll verschwinden.“
„Das heißt, er ist noch bei Bewusstsein. Klar im Kopf.“
„Halbwegs. Er hat mehr genuschelt als geredet. Du solltest nach ihm sehen.“
„Wir sind nicht gerade die besten Freunde.“
„Trotzdem.“


Im Gästeflügel ist es wärmer als im Gastraum. Angespannt lege ich mein Ohr an die Türen und lausche nach verdächtigem Summen, bevor ich sie nacheinander öffne. Nach einem Adrenalinschub erwartet mich drinnen immer dasselbe: Standardausstattung Marke Ostcharme. Bett, Stuhl, Kommode, Fernseher.
Die vierte Tür ist abgeschlossen. Ich rüttele an ihr, rufe Sahins Namen, höre Gemurmel und ein nachdrückliches „Hau ab!“
„Ich bin’s, Ines. Ich wollte nach dir sehen.“
„Hau ab.“ Diesmal klingt es nicht ganz so barsch, eher erschöpft.
„Ich will nur sicher gehen, dass es dir gut geht.“
Ich vernehme ein abgehacktes Lachen. „Plötzlich interessiert euch alle mein Wohlergehen, ja? Mir geht’s scheiße, aber ich werd’s überleben.“
„Es tut mir leid. Es ging alles so furchtbar schnell vorhin. Shilan hat einfach reagiert.“
„Shilan ist ein Psycho. Eine Wahnsinnige, Mann.“
„In Stresssituationen handelt man nicht immer normal.“
Ich höre sein Schnauben durch die Tür.
„Hast du dich deshalb eingeschlossen?“
„Ich will meine Ruhe. Lasst mich einfach zufrieden. Alle. Besonders sie. Anzeige ist raus, Alter.“
Der letzte Satz, so bescheuert er sein mag, erleichtert mich. Augenscheinlich ist Sahin noch immer der Alte.
„Gut so, Digga“, murmele ich. Kurz überlege ich, mich auf eines der frisch bezogenen Betten zu legen und die Augen zu schließen. Ich könnte im Stehen einschlafen, aber ich vermute, dass der Gedanke an die tödlichen Schwärme draußen und die Erinnerung an meine toten Kollegen mich wachhalten würden. Also mache mich auf den Weg zurück.

Wenige Meter vor dem Gastraum höre ich einen Schrei. Meine Beine setzen sich wie von selbst in Bewegung. Shilan und Henni kämpfen, ringen regelrecht miteinander. Der Anblick verblüfft mich dermaßen, dass ich auf der Schwelle stoppe. Ich verstehe nicht, warum sie aufeinander losgegangen sind. Längst haben meine Augen den Gastraum nach Insekten abgesucht, aber nichts hat sich verändert. Leise surrende Ventilatoren wirbeln Essigluft durch den Raum, allmählich trocknende Laken und Tischdecken bewegen sich sacht. Das Prasseln gegen die Scheiben ist zum Hintergrundrauschen geworden, ebenso das tiefe Brummen der Schwärme.
Rasch begreife ich, dass das kein Zickenkrieg mit ausgefahrenen Krallen und Haareraufen ist. Die beiden meinen es ernst. Hochrot und verbissen klammern sie sich aneinander, schnaufen und ächzen. Sie schenken sich gegenseitig nichts, doch trotz mehrerer Treffer auf beiden Seiten gibt keine auf. Shilan versucht, Henni in den Schwitzkasten zu nehmen, setzt ihre größere Körpermasse ein, stößt mit den Ellenbogen und Fäusten. Henni tritt mehr, als das sie schlägt. Immer wieder befreit sie sich aus Shilans Umarmung, zielt auf deren Schienbeine, trampelt auf die Füße. Shilan klatscht Henni ihre Hand ins Gesicht. Ein Blutstropfen löst sich von Hennis Nase, den sie aufgebracht wegwischt.
„Hey“, sage ich, aber sie hören mich nicht.
Mir ist klar, dass ich dazwischen gehen muss, aber die beiden Kampfhennen sind so auf sich fokussiert, dass sie mein Näherkommen gar nicht wahrnehmen. Shilan holt mit dem Bein aus, doch Henni bringt ihr Bein dazwischen und Shilan kracht mit voller Wucht mit dem Schienbein gegen Hennis nach außen gedrehtes Knie. Sie jault auf, hüpft auf einem Fuß. Henni nutzt den Moment und gibt ihr einen Stoß, keinen besonders starken, eher einen Schubs wie Kinder auf dem Schulhof. Dummerweise komme ich in diesem Moment dazu und strecke aus Reflex die Arme aus, als Shilan gegen mich taumelt. Irgendwie driftet sie daraufhin in eine andere Richtung, stolpert über ihre eigenen Beine und rutscht aus. Das alles geht so schnell, dass weder Henni und ich sie zu fassen bekommen, obwohl wir beide nach ihr greifen. Ich erwische lediglich eine Strähne ihres Haares, dann knallt Shilan mit der Stirn gegen einen der Tische. Ein eklig knackendes Geräusch übertönt das Brummen und Shilan kippt zur Seite.
Henni und ich starren uns entsetzt an, dann knien wir gleichzeitig neben Shilan nieder. Mit fahrigen Händen betasten wir sie, schütteln sie, ruckeln an ihr. Keine Reaktion. Auf Shilans Stirn klafft ein Riss, der sich rasch mit Blut füllt, das über ihr Gesicht läuft. Ein Auge ist geöffnet, blickt uns an wie das Glasauge einer Puppe.
Keuchend richtet Henni sich auf, weicht zurück, das Gesicht so hell wie Milch. „Sie ist tot“, flüstert sie. Ein Schluchzen steigt in ihrer Kehle hoch, würgt sie. „Das … das wollte ich nicht. Herr im Himmel, das wollte ich nicht.“ Ihre Stimme erstirbt mit einem Quietschen.
„So wie du Gregors Tod nicht wolltest?“ Ich möchte herumfahren, ihr meine Anklage ins Gesicht schleudern, sie packen, sie anbrüllen. Doch meine Worte verpuffen. Es ist alles zu viel. Zu unbegreiflich. Shilans Tod beinahe schon eine Banalität, eine weitere Kerbe im Gewehrlauf, so unfassbar trivial, dass es mir den Atem raubt.
Ich warte auf eigene Tränen, während ich Shilans Gesicht betrachte. Abgesehen von dem blutigen Spalt wirkt es recht friedlich. Der Tod hat sie überrascht, sie aus der Kalten erwischt.
Ich kann nicht weinen. Vielleicht stehe ich unter Schock – ganz bestimmt sogar – oder Shilan hat mir am Ende doch zu wenig bedeutet. Möglicherweise, weil ich wütend auf sie war wegen Filimon und Gregor und Sahin.
„Was war eigentlich los?“, frage ich und puste aus alter Gewohnheit gegen meinen Pony, obwohl mir gar keine Haare mehr ins Gesicht hängen.
„Ich … Keine Ahnung. Plötzlich kommt sie auf mich zu, fuchsteufelswild. Faselt was von Unfall und Unschuld … Mitschuld … Ich hab versucht, mit ihr zu reden, ehrlich … aber … mit einem Mal geht sie auf mich los.“ Henni stottert. Es ist schwer, Zusammenhängendes herauszulesen.
Ich lehne den Kopf gegen die Tischkante. „Scheiße. Das ist alles nicht wahr.“
„Ich habe mich nur verteidigt“, flüstert Henni. „Das musst du mir glauben. Ines. Du musst.“
„Wieso?“ Ich stemme mich hoch, trete vor sie und schaue sie an. Ihre Augen glitzern wie Türkise unter den Tränen. Ihr Gesicht wirkt aufrichtig geschockt, Schuld frisst feine Linien auf ihre Stirn und um ihre Nase.
Sie sinkt in sich zusammen; ein Häufchen Elend, ein Nervenbündel.
Ich denke an die Tage, die hinter ihr liegen, an all die kleineren und riesigen Katastrophen und einem Teil von mir tut sie leid. Der andere Teil ist misstrauischer, argwöhnischer. Hat Henni Shilan angegriffen? Ihr etwas vorgeworfen, sie gereizt, sie provoziert?
„Überleg mal“, sagt Henni jetzt und blinzelt Tränen von ihren Wimpern. „Sie hat Gregor eindeutig umgebracht. Es war vielleicht kein kaltblütiger Mord, aber immer noch Totschlag.“
„Oder fahrlässige Tötung“, werfe ich ein.
„Wie auch immer. Womöglich wäre sie in den Knast gewandert und wollte uns Zeugen deshalb beseitigen.“
„Quatsch. Glaubst du ernsthaft, sie wollte uns drei umbringen und dann die Tode alle vertuschen? Das ist doch absurd.“
Henni wirft die Hände in die Luft. „Vielleicht konnte sie nicht mehr richtig denken nach all dem hier. Schock. Trauma. Aussetzer. So was.“
„Sie ist Physikerin. Logikerin. Ihr Verstand setzt nicht einfach aus!“
„Trotzdem hat sie mich angegriffen“, beharrt Henni.
Ein Grummeln unterbricht unsere Diskussion.
„Gewitter?“, fragt Henni hoffnungsvoll. Ein zaghaftes Lächeln breitet sich auf ihrem gebräunten Gesicht aus.
„Klingt so“, sage ich, trete ans Fenster und schiebe die Tischdecke zur Seite.
Ein Klumpen surrender Wespen donnert im selben Augenblick gegen die Scheibe, so aggressiv, dass ich nach Luft schnappend zurückspringe.
„Fuck! Die Viecher sind wirklich verrückt geworden! Die fauchen dich regelrecht an!“, sagt Henni.
„Insekten fauchen nicht.“
„Normalerweise. Aber bei denen habe ich das Gefühl, dass sie uns anstieren wie ihren nächsten Leckerbissen.“
Ich weiß, dass sie Blödsinn redet, doch ich widerspreche ihr nicht, weil ich dieselbe merkwürdige Empfindung habe.
„Ines“, sagt Henni, nachdem ich das Tuch wieder vor die Scheibe geschoben habe. „Es war ein Unfall, du hast es gesehen. Selbstverteidigung. Ich schwöre es.“ Sie legt mir eine Hand auf den Arm, um ihren Worten mehr Nachdruck zu verleihen. „Bitte! Das wirst du doch bestätigen?“
Sie klingt beinahe wie Shilan vorhin.
„Ihr geht mir auf die Nerven“, erwidere ich. „Ihr alle.“
„Aber du wirst so aussagen?“ Nervös knetet sie die Adern auf ihrem Handrücken.
„Du hast ihr einen Schubs gegeben und sie ist unglücklich gefallen. Wie es zu dem Kampf kam, musst du selbst erklären, ebenso, warum du Shilan ein Messer zugeworfen hast.“
„Aber …“
„Los. Wir bringen sie zu den anderen.“
Henni wirft mir einen düsteren Blick zu, der mir sehr zu denken gibt, bückt sich jedoch. In dem Blick stehen Angst, Schuld, Verzweiflung. Und unverhohlene Abneigung. Eine gefährliche Mischung.


Shilan ist kein Leichtgewicht, trotz ihrer geringen Körpergröße. Sie wirkt weicher und wärmer als die anderen Toten.
„Vier Leichen“, sage ich nachdenklich, als wir die Tür der Kühlkammer hinter uns schließen. „Allmählich wird es zu eng dort drin.“
Henni schweigt, sagt auch auf dem Weg zurück in den Gastraum nichts, setzt sich mir gegenüber und weicht meinen Blicken aus.
„Sahin geht es besser“, sage ich, weil das Schweigen bedrückend ist. „Er hat sich eingeschlossen.“
Bei dieser Aussage zucken ihre Augen kurz zu mir.
Mehrere Minuten sprechen wir nicht. Wir schieben unsere leeren Gläser hin und her, ich rauche eine weitere Zigarette. Der glühende Kaffee brutzelt leise, die Ventilatoren summen, die Scheiben vibrieren vom Ansturm der Insekten. Diesmal höre ich das Grummeln deutlicher.
„Das Gewitter kommt näher“, murmele ich und blase eine Rauchwolke aus.
Henni erwidert nichts. Ich kann sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitet.
„Vielleicht endet der Spuk tatsächlich bald“, füge ich hinzu und wir versinken wieder in Schweigen.
„Wir könnten sie raus schaffen“, sagt Henni nach einer Ewigkeit und sieht mich an. Ihre Mimik ist nun schwerer zu lesen, denn das Halbdunkel des Raumes gleitet allmählich in Düsternis. Die Sonne ist verschwunden, verschluckt von Schwärmen, Gewitterwolken und dem hereinbrechenden Abend. Plötzlich graust mir vor dem Gedanken, eventuell auch die Nacht hier zu verbringen. Nachts werden Gespenster lebendig und Geräusche zu Lebewesen.
„Wen?“, frage ich mit tauben Lippen, obwohl ich die Antwort ahne.
„Gregor und Shilan.“
„Raus? Du meinst: Da raus?“ Ich nicke zum Fenster.
Plötzlich fängt sie an zu plappern und zu gestikulieren, als hätte sie Energie aus der Luft gesogen. „Sie merken es doch nicht mehr. Die Biester werden über sie herfallen, sie zerstechen und unter sich begraben. Wespen und Fliegen fressen sogar Aas. Niemand wird Verdacht schöpfen. Sie werden denken, dass sie gestorben sind wie die anderen.“
„Aas“, echoe ich in ihre letzten Worte hinein. „Du bist echt krank.“
Sie springt auf. „Verdammt, Ines! Das löst alle Probleme. Für jeden von uns.“
Ich erhebe mich ebenfalls. „Für dich! Sahin und ich haben nichts Unrechtes getan.“
„Was schadet es? Wir sparen uns jede Menge … Kram. Verhöre, Rechtfertigungen, Untersuchungen. Bitte! Sie merken es doch nicht mehr.“
„Nein.“ Ich reiße mich zusammen, versuche, resolut zu klingen. „Ich mache keine Tür auf und ich vernichte keine Beweise. Sie werden die Umstände berücksichtigen, Henriette. Aber du musst die Wahrheit sagen. Sie frisst dich sowieso irgendwann auf.“
Sie starrt mich aus untertellergroßen Augen an, sinkt zurück auf ihren Sitz und heult, aber mein Mitleid hält sich in Grenzen. Was für eine erbärmliche Frau.
Durch Tränenschleier hindurch bemerkt sie meinen verächtlichen Blick. Sie zieht die Nase hoch, wischt sich Rotz und Blut mit dem Handrücken ab, kneift die Lippen zusammen. „Dann mache ich es eben allein.“
„Nur über meine Leiche.“
Sie sieht mich wieder mit diesem hasserfüllten Blick an und ich merke, dass ich soeben eine Kriegserklärung ausgesprochen habe.
Die Luft wird dickflüssig wie Sirup, die nächsten Sekunden tröpfeln dahin. Dann entblößt Henni ihre Zähne zu einem Grinsen.
Ich stehe noch, deshalb bin ich einen Tick schneller. Ich drücke sie mit der Hand zurück und sprinte los, hetze in die Küche, reiße die Kühlkammer auf, gleite hinein, höre, wie Henni von außen dagegen prallt und laut flucht. Panisch angle ich den Schlüssel mit einer Hand aus meiner Hosentasche, während ich mit der anderen die Klinke festhalte. Nach zähem Ringen knackt es und die Tür ist zu.
Ich weiche an die hintere Wand zurück, starre auf die Tür, hinter der Henni jetzt wütet wie die Wespen draußen. Sie schreit und schimpft, flucht und droht. Minutenlang.
„Du kannst nicht ewig da drin bleiben!“
Und ob ich das kann.
Dann ist Stille. Und sie ist absolut.
Ich gleite an der Wand hinunter, ziehe die Beine ans Kinn, lege meine Stirn auf meine Arme. Sie ist fieberheiß. Das Adrenalin schickt schnelle Pulsstöße durch meine Adern, mein Herz rast. Meine Knie und mein Handgelenk puckern von dem Sturz vorhin.
Die nächste halbe Stunde versuche ich, mich und meine Gedanken zu sortieren, meine Situation zu überdenken, mich selbst zu beruhigen. Ich sitze im Dunkeln, umgeben von totem Fleisch. Die Dunkelheit jagt mir Schauer über den Rücken, aber ich fürchte mich mehr davor, das Licht einzuschalten und in vier wächserne, anklagende Gesichter zu starren.
Ich bin ich Sicherheit. Vor den Schwärmen und vor Henni. Lange muss ich nicht aushalten. Ein Gewitter und die Nacht sind im Anmarsch. Sie werden die Biester vertreiben. Henni wird flüchten, sobald die Luft rein ist, rede ich mir ein. Weit wird sie nicht kommen. Ich kenne ihren Namen und weiß, wo sie arbeitet. Aber eigentlich ist mir ihre Zukunft egal. Rettungskräfte werden kommen und mich befreien. Ich kann die Kälte von hier drinnen regulieren, es wärmer machen, warm genug, dass ich nicht erfriere. Ich habe Bier und gefrorenes Gemüse, das ich lutschen kann. Selbst wenn Henni verrückt genug ist, den Strom abzuschalten, dauert es Stunden, bis ich ersticke. Bis dahin ist der Regen da.
Ich klammere mich an diesen letzten Gedanken, bete ihn wie ein Mantra.
Sahin schießt mir durch den Kopf, bringt mich aus dem Konzept. Doch dann denke ich wieder an mich und den Regen, der bald einsetzen wird.

Autorennotiz

Immer noch Randberliner. Immer noch schreibend.

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RhodaSchwarzhaars Profilbild
RhodaSchwarzhaar Am 18.09.2022 um 17:11 Uhr
Krass, einfach nur krass. Gut geschrieben. Nur etwas schade, dass man darauf sitzen bleibt, was mit dem Rest passiert, ob es nun wirklich so eintrifft aber das meine ich nicht negativ. Ich wüsste es gern, ja aber schön, dass du das der Fantasie des Lesers überlässt.
Davon abgesehen bin ich froh, dass ich das erst lese, wo keine Wespen mehr unterwegs sind. Ich hatte in diesen Sommer eine einzige Wespe, die wirklich penetrant mir im Garten hinterhergeflogen ist.
Wenn ich da mal im nächsten Jahr nicht dauernd an diese Geschichte hier denke. :)
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Aidan (Autor)Am 19.09.2022 um 17:32 Uhr
Danke für deine Bewertung und deinen Kommentar. Dass mit dem offenen Ende ist Absicht :)

Autor

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Bewertung

Eine Bewertung

Statistik

Kapitel: 5
Sätze: 2.360
Wörter: 21.959
Zeichen: 130.441

Kurzbeschreibung

Eine Raststätte zwischen Rostock und Berlin in naher Zukunft. Zehn Menschen drinnen, Millionen Feinde draußen. Ich widme die Kurzgeschichte Chucky, dem liebenswertesten, sanftmütigsten Kater des Universums, der heute diese Welt verlassen hat. Du lagst neben mir, während ich geschrieben habe, kamst zum Kuscheln und Streicheln, hast mich aus meinen blutrünstigen Fiktionen zurückgelockt. Schnurre in Frieden, mein Dicker.

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