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Die Menschen im Bahnhof waren alle so viele und so unterschiedlich und glichen sich nur darin, dass sie ihn übersahen. Der Mann, der keinen Koffer trug, betrat wie früher die Bahnhofshalle und ging in der Masse unter. Viele Tage hatte ihn der Ort von Haus zur Arbeit geschleust und wenig dafür verlangt.
Der Mann, der keine Gewohnheit mehr kannte, ging in entschiedenen Schritt an dem Gleis vorbei, das ihn früher gegrüßt hätte, wie einen alten Arbeitskollegen. Doch das Gleis und er waren verfremdet.
Tatsächlich erkannten sie sich kaum wieder.
So ging er weiter, mit ihm die Masse. Er machte keine Anstalten, sich von ihr zu befreien, kurz Luft zu schnappen. Stattdessen ging er in der Masse unter. Die Gesprächsfetzen, die sich zu einem eigenen Kleid der Zwischenmenschlichkeit zusammennähten, senkten seinen Herzschlag. Die Farben der Menschen und die Farben ihrer Gerüche legten sich auf seinen Puls.
Er nahm eine Rolltreppe.
Er näherte sich einem anderen Gleis. Hier blieb er zwischen Gleis und gelber Sicherheitslinie stehen.
Er hielt seine Glieder so eng bei sich wie möglich. Sein Blick in einem Schraubstock gesperrt, doch blind.
Er hatte noch zu reisen, damit vor ihm stand was er jetzt schon vor sich sah. Der Zug kam und entlud seine Ladung. Er grüßte ihn wie ein Bürokrat im dritten Stock des Rathauses.
Anscheinend war er eingetreten, denn er fand sich auf einem der Sitze wieder. Trotzdem hielt er sich an einen der gelben Stäben fest. Erst mit der einen Hand. Als diese zu schwitzig wurde, wechselte die andere sie ab. Eine Hand, die im letzten Monat oft seinen Namen geschrieben hatte. Über einen graden schwarzen Strich, einmal versehentlich darunter. Aber das machte nichts.
Er nahm sich selbst kaum noch war. Er war nur der Schweiß auf seiner Hand.
Die Bahn hatte schon längst die Fahrt begonnen, ohne den Mann aufmerksam zu machen. Es war sehr voll und auch sehr still. Irgendwie versicherten die Menschen ihm, noch am leben zu sein.
Der Zug fuhr durch die dunklen Tunnel und kreischte dabei. Der Mann glaubte, der Zug schreie, weil die Passanten so schwiegen.
Ihm gegenüber saßen zwei Mädchen, die sich gegenseitig voneinander ablenkten. Sie schwiegen, weil der Zug so kreischte.
Er sah sich selbst in den Fenstern. Ein Damoklesschwert ragte aus seinem Schädel.
Fahrkartenkontrolleure kamen, nuschelten ihre Mantras und benickten seine Tageskarte, als wäre sie ein expressionistisches Gemälde und sie keine Kunstkenner, ihr Schwiegerväter aber schon.
Der Schwere Atem des Zuges hielt ihn wach.
Er wusste, er war jetzt frei.
Er wusste, das durfte nicht so bleiben.
Er wusste, eine von zwei Dingen musste aufhören.
Eine dieser Dingen war er.
Zuhause lag ein Stapel Papier mit seinen Namen drauf. Zuhause lag eine Pistole, die sich noch zum vollen Preis verkaufen ließe. Zuhause klopfte sein Vermieter grade zum dritten mal an die Haustür und rief seinen Namen.
Doch der Mann fuhr grade durch Wälder und Kleinstädte ohne Kinos aber drei Bäckereien. Der Zug war sein Begleiter. Die Passanten waren die Motoren. Der Mann ohne Koffer war der schwere Atem des Zuges. Nachts würde der Zug unbenutzt ersticken.
Soll der Vermieter doch klopfen, soll er Strom und Wasser kappen. Wenn der Vermieter ihn anruft um seine Schulden einzufordern, wird ihm eine elektronische Frauenstimme darüber informieren, dass diese Nummer nicht mehr vergeben ist.
Soll er ihn aus der Wohnung schmeißen. Er hatte noch ein Netflixabbonement, eine Zieladresse und keine Absichten jemals zurückzukommen. Er hatte keine Angst vor der Straße. Er hatte keine Angst. Die Straße war immer nur ein Zwischenhalt.
Als der Mann den Zug verließ, ohne Abschied, hatte er keine Ahnung ob er hier richtig war. Dieser Ort sah genauso aus wie alles, was er die letzten drei Stunden durchkreuzt hatte.
In einem Halbdorf, das so viele Schafe hat, wie Häuser (Wenn man Gewicht als Maß nimmt), beschloss in den 70er Jahren ein sozialdemokratischer Bürgermeister, der den Beruf aus Perspektivenlosigkeit führte, das Halbdorf benötige einen Sozialbau. Die Dörfler meiden den Bau, wie die Städter das Dorf meiden. Und sie haben recht, der Bau ist so hässlich wie seine Bewohner. Unter anderen der Bürgermeister, der nach einigen finanziellen Fehlentscheidungen selbst den vierten Stock bewohnt. Niemand betritt die Wohnungen, der nicht selber hier wohnt. Die, die hier leben, kennen voneinander nicht den Namen, dafür aber die Lieblingsdroge des Anderen.
Irgendwann jedoch sind die Leute gekommen. Regelmäßig. Oft erscheinen sie morgens, betreten den Kastenbau, verlassen ihn am Abend wieder. Einige laufen geduckt wie Riesen im Altbau. Still, vielleicht vor sich hinmurmelnd. Manchmal spucken sie auf die Straße, Fäuste geballt. Ihre Schritte sind schwer und platt, mit der Erde zerstritten. Wenn sie am Abend das Haus verlassen, haben ihr Füße Frieden mit dem Boden geschlossen. Sie gehen leichtfüßig und singen laut „Bohemian Rhapsody“. Einige kommen laut lachend. Der Motor ihres Autos, die zuprallenden Autotüren kaum zu hören, so übertönend ist das Lachen. Das Geräusch von Bierflaschengeklirr und Hüftschwung. Sie kommen häufig in Gruppen. Sie kommen als Freunde.
Nachts verlassen sie das Haus wie Mörder, die sich wieder an dem Mord erinnern.
Einer nach dem anderen huschen sie in die schwarze Nacht. Sie sind Bierscherben und Rheuma.
Häufig treffen sie alle am Ende der Woche und am Anfang des Monats ein. Sie stammen aus allen sozialen Schichten. Sie kommen von überall her.
Das Haus hat sechs Stockwerke, in jedem Stockwerk gibt es eine Wohnung. Die Treppen zwischen den Etagen bestehen aus je 15 Treppenstufen. In drei der Wohnungen leben Kettenraucher, in einer ein Alkoholiker, in einer ein Kokainpärchen, im obersten Stockwerk eine Verliebte. Vier der Wohnungstüren sind funktionstüchtig, bei einer ist der Zustand unbekannt, da der Inhaber seine Tür nie schließt. Also Folge hat jeder Anwohner eine Meinung über den Zustand seiner Ehe. Die Tür in der zweiten Etage besteht aus billigem Preßspan, einem vermilchten Türspion, der verkehrt eingebaut ist, und acht Scharnieren. Da das Schlüsselloch zerstört ist, lässt sich die Tür jederzeit öffnen.
Da vor 45 Jahren der für den Einbau des Türrahmens zuständige Tischler an diesem Abend weniger an seine Arbeit, sondern mehr an das schwangere Mädchen zwei Dörfer weiter dachte, das seinen Namen und seine Telefonnummer kannte, nicht aber seine Frau, wurde im zweiten Stockwerk irrtümlich eine Tür eingebaut, die sich in beide Richtungen öffnen lässt.
Reißt man die Tür nach außen auf, was wenige tuen, stolpert man in die dreckige Wohnung einer Mittfünfzigerin.
Seit 20 Jahren hat sie nicht gearbeitet. Würde man sie darauf ansprechen, würde sie nur erwidern, dass sie lediglich nicht für ihre Arbeit bezahlt werde. Sie hat einen Hund, der für sie Familie ist, und eine Katze, von der sie am liebsten einen Mietvertrag hätte. Die Katze ist eine Perser, der Hund ein Straßenmix. Die Frau ist ein Straßenmix. Ihre Stimme ist verraucht, ihre Wohnung ist verraucht, dafür ihr Verstand umso klarer. In letzter Zeit stürmen fremde Leute in ihre Wohnung. Sie ist überall gewesen, wo sie sein wollte. Sie bereiste Paris und verliebte sich in die Vororte. Das schönste an London war für sie der Blick vom London Eye, weil man dann die ganze Stadt ohne das London Eye sehen konnte. Sie hatte in ihrem Leben fünf Menschen gerettet und einen Mann umgebracht, ohne davon zu wissen. Würde sie es wissen, würde sie sich freuen. Sie ist Nichtwählerin. Fragt man sie, ob sie glücklich ist, antwortet sie: „ich bin glücklich,“ und lügt nicht. Aber es fragt sie niemand. Ihre Wohnung verlässt sie nur zum Einkauf, der im wesentlichen aus Roggenbrot und Camel-Zigaretten besteht. Betritt sie ihre Wohnung, reißt sie ihre Tür immer nach außen auf. Nachts lacht sie manchmal. Sie findet, dass ihr Nachbar sich von seiner Frau scheiden lassen soll. Sie summt selbsterdachte Melodien, sie ist vergänglich. Sie weiß, sie ist vergänglich. Sie hat keinen Fernseher. Sie ist ein Pariser Vorort.
Reißt man die Tür nach innen auf, was viele tuen, so betritt man den Himmel für sechs Stunden.
Hier, in diesem Nicht-Ort, so unbedeutend, dass man sich nicht einmal hier hin verirren kann. Hier, in einem 500 Quadratmeter großen Wohnungswürfel, der für 12 Leute eine Notlösung ist und für eine Frau Heimat. Hier, hinter einer falsch eingebauten Tür, die Zeuge einer zerbrochenen Tischlerfamilie ist. Hier findest du für die Hälfte eines halben Tages das Paradies.
Frag nicht warum.
Frag nicht Wo, du findest es nicht.
Der Mann ohne Koffer hat es gefunden.
Schwer atmend, mit frierenden Händen, die nicht mehr schwitzten, stand er vor dem Wohnhaus. Vor der verschlossenen bleichroten Haustür. Um ihm rum große, einladende Landhäuser mit künstlerischen Holzfiguren im Garten. Der Sozialbau stach heraus. Er war ein weißer Strich auf einem expressionistischen Gemälde.
Hinter dem Wohnhaus ging die Sonne unter. Es war Ende des Monats. Es war Anfang der Woche.
Eine junge Frau glitt über den Teerpfützenweg zum Mann und zur Wohnungstür. Sie murmelte, entweder zur Tür oder zum Mann. Dieser trat beiseite. Ihr Schlüssel ging ins Schlüsselloch. Ihre Hand drehte sich mit der Gewohnheit eins Fließbandarbeiters. Sie seufzte zu niemanden und trat ein, der Mann schlich hinterher. Ihre Schritte waren 90 Treppenstufen lang zu hören. Der Mann ohne Koffer wartete noch ein Weilchen, um Abstand von der Frau zu gewinnen. Dann bestieg auch er die Treppe. Er fragte sich, wann er das letzte mal geseufzt hatte.
Also stand er jetzt da. Vor dieser Tür. Zum ersten Mal seit langer Zeit spürte er sich wieder.
Er fragte sich, wie es wohl ist.
Es war ein fragwürdiges Wunder, dass er hierhin gefunden hatte. Erschöpft hatte er sich auf eine dieser Bänke der Autobahnraststätten gelegt, die man nur schlecht in Erinnerung hat, weil man entweder noch nicht am Ziel angekommen war oder dieses gerade verlassen hatte. Und er war eingepennt. Mit brummenden Kopf und ausgewrungenem Körper war er aufgewacht, müder als zuvor. Auf der Rückseite der Hand hatte jemand eine Adresse eingekritzelt. Bemerkt hatte er sie erst, als er wieder in den Firmenwagen stieg. Verwirrt hatte er sich umgeguckt. Die Raststätte war leer.
Er hatte die Adresse in einem Internetcafe eingegeben und war auf eine veraltete Website gestoßen, deren Besitzer wahrscheinlich längst verstorben war. Wären Internetadressen Häuser, wäre diese hier die alte, verkommene Villa am Ende der Straße in der eine Hexe wohnen soll und regelmäßig Kinder verschwinden. Die Seite verriet von diesem Ort und der Mann beschloss, er habe nichts mehr zu verlieren, nicht einmal einen Koffer.
Und jetzt war er angekommen.
Er wusste von den Bedingungen, die an ihn gestellt wurden. Er wusste von den Konsequenzen.
Man hatte ihm verraten, dass niemand die selben Sechs Stunden erlebte. Jeder bekam sein eigenes Stück Himmel. Die Seite verriet allerdings nicht, wie der aussah.
Er wusste auch, dass der Eintritt dazu führte, nichts nach seinem Tod zu bekommen. Der ewige Himmel wurde für Sechs Stunden eingetauscht. Das waren die Kosten der Ungeduld. Trotzdem hatte er sich auf den Weg gemacht.
Also holte er Luft, was er immer tat, aber nie so bewusst. Er holte Luft, bis der Atem tief in seinem Inneren etwas berührte, weckte. Dann trat er ein.
Er riß die Tür nach außen auf.
Ihm war schnell klar, dass das nicht der Himmel war. Rauchschwaden, abgenutzte Wände, kaputte Bilderrahmen auf dem Boden und ein Hund, der sein Bein anknurrte, waren nicht der Himmel.
Der Frau, die ihm gegenüber stand war klar, dass er nicht sie besuchen wollte.
„Falsche Richtung“, sagte sie.
„Bitte?“ Er war perplex. Plötzlich fiel ihm auf, wie albern es war, hier hingekommen zu sein. Viele dumme Schritte war er gegangen. Er machte Anstalten, zu gehen.
„Nein nein. Du bist einigermaßen richtig, Kindchen.“
Die Frau saß hinter einem Tisch, in dem tausende Tassen ihre Ringe tätowiert hatten. Auf ihrem Schoß lag eine Katze. Sie schnurrte, wurde aber nicht gestreichelt.
„Ich… Ich“, stammelte er. Er merkte wie lange er nicht mehr geredet hatte. Er merkte, dass etwas in ihm nicht erwartet hatte, jemals wieder zu reden.
„Lass mich raten. als du in meine Wohnung gestürmt bist, wurden deine Erwartungen nicht ganz erfüllt, hmm?“ Er fragte sich, wie eine so tiefe Stimme aus so einem kleinen Menschen kam. Ihre Hände flatterten, als würde sie Fliegen verscheuchen. Aber der Raum war zu verraucht für Fliegen. „Ernsthaft. Du machst dir keine Vorstellungen, wie oft das schon passiert ist. Die Leute kriegen alles raus. Ernsthaft. Alles. Sie erfahren von den sechs Stunden im Paradies. Die Adresse. Die Konsequenzen“, sie legte ihren Kopf in die Hände. „Aber von der verdammten Tür, von der weiß wirklich nie jemand.“
Der Mann ohne Koffer stand da wie ein Operngänger, der nur kurz auf Toilette wollte und auf der Hauptbühne gelandet ist. „Ach herrje“, sagte die Frau. „Ich bin unhöflich“. Ihre Hand griff unter den Tisch mit der Geschmeidigkeit eines Taschenspielers. Sie kam wieder empor, jetzt umfasste sie eine Packung Zigaretten. „Nimm!“
Der Mann nahm zögerlich. Feuer wurde ihm hingehalten und er nahm vorsichtig ein paar Züge. Er war anscheinend Raucher. Er genoß es nicht sehr. Nicht seine Marke. Also schnipste er sie weg.
Aber der Rauch, den er Ausstoß und ihm versicherte, zu atmen, beruhigte ihn. Und während sein Rauch und der Rauch im Zimmer zögerlich Freundschaft schlossen, redete die Frau weiter. „Du hast genau eine Sache falsch gemacht. Du musst die Tür nach innen aufmachen. Du hast sie aber nach außen aufgemacht.“ Sie zündete sich jetzt selber eine Zigarette an. „Ich muss zugeben, es ist manchmal anstrengend. Ständig platzen Leute rein. Aber man lernt so auch die interessantesten Menschen kennen… Und es verbilligt die Miete. Ehrlich.“ Die Frau schien keine Erwiderung zu erwarten. Sie schien die Sachen zu sagen, um sie gesagt zu haben.
Unanständig lange sagte der Mann nichts. Die Dame bat ihm einen Platz am Tisch an. Er setzte sich, worauf der Hund entschied sich auf seinen Schoß zu legen. Er würdigte dem Mann keinen Blick. Trotzdem fing dieser an, ihn langsam zu streicheln. Der Mann beschloss, fürs erste hier zu bleiben.
„Sagen sie…“, setzte er an.
„Warte.“ Sie nahm einen tiefen Zug. Ihr Atem ein Geysir aus Rauch. Sie seufzte sanft.
„Sagen sie“, er merkte, wie weich seine Stimme war. „Warum kommen die Leute hierhin?“
„Oh die absurdestesten Sachen. Ist ja auch ein absurder Ort. Selbstzerstörerische Neugier. Ist ja auch ein Selbstzerstörerischer Ort. Ungeduld. Atheismus, Zyniker. Manchmal kommen Drogensüchtige, die einfach einen neuen Kick brauchen. Ich hatte zwei schlecht gelaunte Theologen, die eine endgültige Lösung ihrer Debatte verlangten. Waren die verwirrt, als die bei mir gelandet sind.“ Sie lachte ihr zufriedenes Lachen. Der Mann stellte sich vor, dass Buddha genauso lachen musste wie sie. „Hab denen erstmal vorgegaukelt, der Himmel sei ein schmutziger Raum in dem eine schmutzige Mittfünfzigerin wohnt. Bei dir war ich mal etwas rücksichtsvoller.“ Ihre Augen zielten freundlich auf seine. Der Mann spürte, sie suchte den zwischenmenschlichen Kontakt. Schnell schaute er weg, entschloss sich dann aber doch noch für ein anstandsvolles Bühnenlächeln.
Sie führte ihre Hand zum Mund, und legte sie wieder ab. Diese Bewegung sollte sie im Laufe des Abends wiederholt ausführen.
„Lass mich raten. Du wirkst mir wie einer dieser Hintern mit komplementärer Bürostuhlform. Die sich in Burn-outs sonnen und ihre Midlife Crisis viel zu früh bekommen. Jedenfalls behaupten sie das, in Wahrheit sind sie einfach nur unfassbar unglücklich mit ihrem Leben. Und jetzt kommen sie hier her, weil sie inzwischen so oft auf Wände gestarrt haben, dass sie auf zwei Meter Entfernung die Rauheit der Tapete ablesen können. Und weil die was anderes sehen müssen. Und weil sie sich der Konsequenten weniger bewusst sind als sie sich ihrer Sehnsucht bewusst sind. So einer bist du. Hab ich recht? Ich habe recht.“ Der Mann ohne Koffer merkte, diese Frau redete vornehmlich mit Hunden und Katzen. Dementsprechend viel plauderte sie, ohne eine Reaktion zu erwarten.
Dem Mann fiel es es schwer zu reagieren. „Ich vermute, das trifft wohl irgendwie auf mich zu,“ gab er zu. Seine Stimme so melodiös, doch schwermütig. „Das heißt, ich war wohl mal diese Person. Ich habe viel zu viel Tapete betrachtet, das muss ich gestehen. Ich lebte in einer Stadt. Im Süden wohnte ich, im Westen ging ich zur Arbeit. Jeden Tag, auch viele Wochenendtage ging ich zur Arbeit. Ich nahm dabei immer dieselbe Route. Jeden Abend kam ich zurück und küsste die selbe Frau. Jeden Tag küsste ich diese Frau. Vielleicht küsste sie zurück.“ Der Mann sammelte sich. Er starrte auf den Tisch, als könnte er in all den Windungen und Verfärbungen, die das Wasser schuf, so ungewollt, die Bilder seines früheren Lebens erahnen. Er sammelte sich und seine Erinnerung, die wie in Wut zerstört auf dem Boden lagen. Die Frau unterbrach kurz ihr Spiel aus Auf und Ab der Zigarettenhand.
„Ich war viel auf Geschäftsreisen, denke ich. Bot irgendwas zum Verkauf an. Aber in Wahrheit habe ich meinen Kunden nur mein unedles Metalllächeln verkauft. Ich verteilte Visitenkarten wie Liebesbriefe. Zuhause kaufte ich das Lächeln von dieser Frau. Ich kupferte es von ihr ab.
Manchmal sehe ich Fäden an meinen Händen, die in den Himmel reichen.
Eines Tages saß ich auf der Parkbank. Eine dieser Bänke, über die man nur gut denkt, weil es immer sonnig ist, wenn mann sich auf sie setzt. Eine alte Frau kam zu mir. Ich sagte: „Ein schöner Tag, nicht wahr.“ Sie sagte: „Mein Mann ist heute gestorben.“ Wir sagten viel dazwischen, aber das ist belanglos. Sie sagte: „Ich vermisse ihn. Ich vermisse ihn wie Tauben das Brot und jetzt habe ich kein Brot sondern Hunger und ich werde nie wieder Brot essen, bis ich sterbe. Ich hoffe es wird in zwei Wochen sein. Nächste Woche hat Margarete Geburtstag und ich will das nicht verpassen, aber in 3 Wochen feiert Anna Goldhochzeit und ich kann Anna nicht leiden. Ich hoffe es wird in zwei Wochen passieren.“ Und dann fütterte sie die Tauben und schimpfte auf sie ein, weil sie neidisch war. Und ich ging nach Hause und nahm meinen kleinen Koffer mit, den ich immer bei mir trug. Ich ging nach Hause und merkte, dass ich keinen Hunger spürte und auch keinen Ärger über die Tauben, freute mich auf keinen Termin und betete nicht um ein vorzeitiges Ableben, um einer Veranstaltung zu entgehen. Ich genoss meinen Job, weil er mich zum Funktionieren zwang. Ich wusste nichts von dieser Frau in meiner Wohnung, weil unsere Beziehung so mechanisch war. Ich küsste sie weiter an den Tagen, an denen ich zur Arbeit ging und ich ging nicht mehr zur Arbeit. An meinem letzten Tag schrieb mir jemand diese Adresse auf die Hand. Sie verließ mich und ich war endgültig davon überzeugt, dass sie mich nicht verlassen hat, weil ich nicht existiere. Ich war nur eine Idee in meinem Kopf, die rumspukte und die Mietpreise meiner Gehirnareale niedrig hielt.
Sie verließ mich und hinterließ nichts. Ich merkte, wie sehr ich diese Welt liebte und wie wenig ich teil von ihr war. Ich bin eins dieser Ausmalbilder und ein Kind hat mich nicht richtig ausgemalt. Die Flächen sind nur halb gefüllt, die Linien überkrakelt.“
„Klingt nach vorgezogener Midlife Crisis“, erwiderte sie taktlos. Seine Augen glänzten wie Gletscherwasser. „Hab ich schon oft hier gehabt. Leute die im Krater leben und über ihren Horizont verzweifeln. Seine Nähe ist ja so körperlich, es ist schon was unangenehm. Mein Mann war so.“ Er hörte auf, den Hund zu streicheln. „Und jetzt bist du hier, weil du was brauchst, was dich antreibt. Weil du zusammengekauert auf dem Boden liegst und dir jemand aufhelfen soll. Sieh dir doch mal deine Hände an. Sind ja zu Fäusten verkrampft.“ Das stimmte. Sein Körper war lasch wie ein Herbstzweig, doch die Hände blieben angespannt. Sie bewiesen den latenten Gleichstrom der Wut, der durch ihn floss, von dem er keine Notiz mehr nahm. „Ihre Sicherheit ist arrogant“, erwiderte er nur. „Oh ich bin arrogant.“ Buddhas Lachen. „Ernsthaft, schau dich um. Ich gehe nie irgendwohin. Ich kaufe Lottos und überprüfe nicht ob ich gewinne. Ernsthaft, ich müsste meinen Kopf nur in diese Ecke da halten und kann Krebs ins seiner reinsten Form einatmen. Ich bin 53. Mit 40 habe ich gesagt, genug, jetzt genug. Hab alles gesehen. Herbst jetzt. Ich habe niemanden, das finde ich gut, das ist arrogant. Zufrieden mit seinem Leben zu sein, ist die größte Frechheit die ein Mensch sich leisten kann.“ Sie pausierte, wahrscheinlich nur um sein reaktionsloses Gesicht abzuschätzen. „Was denkst du, Kindchen, wie wohl mein Himmel aussieht? Genau so.“ Sie zeigte um sich rum. „Vielleicht mit nem immer leeren Aschenbecher. Und die Katze ist nicht da. Gottchen, vielleicht habe ich schonmal versehentlich die Tür nach innen geöffnet, ohne es zu bemerken.“ Selbstzufriedenheit. „Sie haben es selber nicht betreten?“. Der Mann zeigte einen Windstoß Interesse. „Nein, niemals“. Ein amüsiertes Lächeln formte sich auf ihrem Gesicht. „Stell dir eine gesunde Familie vor. Eltern und ein Sohn. Doch der Vater stirbt. Jetzt nimmt der Junge Drogen und landet auf der Straße. Seine Mutter würde niemals die selben Drogen nehmen, oder?. Nein. Ich würde da niemals rein gehen. Hab gesehen was es mit den Menschen macht. Es verändert sie. Worüber sie zufrieden sind, sind sie es nicht mehr. Was sie nicht leiden können, ist plötzlich die Essenz der Welt. Und das alles in sechs Stunden. Was macht das mit mir, dem glücklichen Menschen? Ich hatte hier Großbankiers sitzen, am weinen. „Ich hab es verpasst, ich hab es verpasst“, ham sie gewimmert. „Was hast du verpasst“ hab ich gefragt - kein Antwort. Da wo du jetzt sitzt, saß ein alter stinkender Junkie. Narben in den Armbeugen. Keine Zähne, die den Mundgeruch verdecken können. Sein Wahnsinn ohne Vorhang. Am kichern. Richtig glücklich. Was denkst du, was er gesagt hat? "Ich werde es ihnen allen zeigen." Gänsehaut. Hab nichtmal gefragt, was er denn zeigen möchte. Hab ihm nur gezeigt, wo der Ausgang ist. Niemand, der durch die Tür gegangen ist, hat mir verraten, was genau er gesehen hat. Nur einer. Unscheinbarer Mann. Hat geklopft. „Ich war jetzt drin“, hat er mich informiert. Seine Augen haben geglänzt wie Gletscherwasser. „Und?“ Und er flüsterte: „Nichts. Da war nichts.“ Und dann hat er geseufzt. Was soll man den dann erwarten? Was erwartest du?“
„Nichts“, flüsterte der Mann ohne Koffer. „Nichts?“, Fragte die Frau. „Ist das wirklich, was du erwartest? Deswegen bist du hierhin gekommen? Sag, Kindchen, was erwartest du wirklich? Du kommst extra hierhin, weil deine Seele den grauen Star hast und erwartest nichts?“ Die Frau lehnte sich zurück. Der Mann fragte sich, ob die Frage ernstgemeint war. Dann fragte er sich, ob hier irgendetwas ernst gemeint war. „Es stimmt doch, was man sagt, richtig?“ Seine Stimme war brüchig wie eine unterfinanzierte Schule. „Was?“, unterbrach sie ihn, obwohl es offensichtlich war, dass die Frage folgen sollte. „Nun, wenn ich durch die Tür gehe - diesmal richtig- habe ich sechs Stunden und wenn ich dann sterbe - und ich werde sterben - wird nichts mehr kommen, nicht wahr? Kein Gott, keine Hand begrüßt mich zur nächsten Stufe der Existenz. Keine Bühne auf der ich erwache. Kein Auditorium empfängt mich klatschend. Nur nichts. Weniger als Schwarz. Nicht dieses Eigengrau, dass man sieht, wenn man die Augen schließt. Lediglich die Versicherung nichts zu sein. Der Zweifel, dass ich nie wirklich existiert habe, der bald zu Sicherheit umschlägt. Das sei mir versprochen, wenn ich nur durch die Türe gehe, nicht wahr?“ Die Augen der Frau verengten sich zu Schlitzen. Ihre Zigarette war entweder aufgebraucht oder ihr nicht mehr frisch genug. So zündete sie sich eine neue an und wanderte zum Fenster, tat so als würde sie die Welt durch das blinde Glas betrachten. „Wie alt bist du?“, fragte sie schließlich. „In Jahren seit meiner Geburt oder in Tagen bis zu meinem Tod?“ „Ich habe dich nicht gefragt, ob du ein dramatisches Kind bist, ich will wissen, wie alt du bist.“, durchschnitt sie die Luft. Der Mann schwieg, weil er keine Ahnung hatte. „fünfundzwanzig“, rat er. Sie schritt zu ihm heran. Obwohl er saß, überragte sie ihn kaum. „Als ich fünfundzwanzig war lief ich durch die Straßen Osakas, neben mir ein Mann der mein Mann war und war unglücklich. Ich lachte und rauchte nicht. Jetzt bin ich glücklich. Vielleicht solltest du nicht auf dich selber hören, wenn du fünfundzwanzig bist. Aber andererseits, vielleicht solltest du auch nicht auf Fünfzigjährige hören, die keine Ahnung von deinem Leben haben. Wer bin ich das zu entscheiden?“ Der Mann spürte, sie wollte ihn dazu bringen wieder zu gehen, ungetaner Dinge. Aber er spürte auch, dass ihr eigenes Glück sie dazu gebracht hatte, die Menschen nicht anzuleinen. Die Frau umgab die freundlichste Form der Gleichgültigkeit.
Sie ging in irgendein Hinterzimmer und bald darauf kam mit ihr aus dem Zimmer das heiße Rauschen eines Wasserkochers. Wenn es eine Zimmerlampe gab, dann machte sie sie jetzt an. „Ich denke, ich weiß, was du willst Kindchen. Du kannst dich nicht leiden. Finde ich nicht ganz fair, aber vielleicht ist das nur die Anstandsdame in mir. Bestimmt hast du schon alle Vorkehrungen getroffen. Irgendwo in deiner Wohnung liegt ein Seil, oder ein Messer oder eine verdächtige Anzahl weißer Pillen. Vielleicht hast du es schon versucht? Und dann ist dir plötzlich eingefallen, was ist mit der zweiten Chance: Das Leben nach dem Tod? Und das mochtet du nicht. so wie du es mir grad erzählt hast, ist es nicht das Leben, das dich dazu treibt. Nein, du hasst dich selber. Du gönnst dir nicht deine eigene Existenz. Auch nicht nach dem Tod. Du willst dich ausradieren und befürchtest, kleine Bleistiftreste werden übrig bleiben. Und dann ist dir dieser Ort eingefallen. Muss sagen, hatte niemanden wie dich. War auch ganz froh darüber“ Der Mann schmunzelte, dann erwischte er sich dabei. „Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Nein nein, das wäre zu einfach“ „Gut, dann erleuchte mich.“ Ein Klacken ertönte aus dem Nebenzimmer. Wenig später hatte die Frau ein Kaffeekanne und eine Tasse in der Hand. Der Mann ohne Koffer schaute sie zum ersten Mal direkt an. Zum ersten Mal seit einer langen Zeit schaute er einen Menschen direkt an.
„Ich versuche mich zu retten“ Die Frau schüttete ein, nippte. Seine Hände blieben leer. Sie hörte ihm zu. „Deswegen bin ich hier. Ich hatte wie Zucker in Wasser sein wollen. Ich beschloss,, wohin ich auch gehe, es wird das letzte mal sein, dass ich dahin gehe. Ich verkaufte meine Sachen. Ich wollte meine Bilder verbrennen, aber ich vergaß bald, welche von belang waren. Ich kündigte - immer wieder. Meinen Handyvertrag. Mein Skynet. Gartenmagazine. Emailadressen. Freundschaften. Es war ein befreiendes Gefühl. Zu sagen, ich bin das nicht mehr. Zu sagen, ich werde es nicht mehr sein. Manchmal kaufte ich irgendwelche Dinge, nur um sie wieder los zu werden. Ich schrieb meinen Namen so oft, er war nicht mehr Name, nur noch ein Element des Vertrags. Welche Allee meine Füße auf mein Befehl beschritten, ein Teil von mir blieb auf jeden Meter zurück. Ich verkaufte meine Möbel. Meinen Koffer warf ich aus dem Fenster. Meine Seele warf ich in den Müllschacht. Irgendwann lag ich nur noch so da. Einen ganzen Tag oder so. Oder eine Woche. Ich hatte mich selbst gekündigt. Meine Welt war auf die Größe geschrumpft, die ich verdiente. Ich nahm nichts mehr zu mir, kein Wasser ging diese Kehle runter. Ich war ohne Besitz. Es fehlte nur noch ein Schritt. Ich hatte meine Unterschrift nur noch unter einem Kündigungsvertrag zu setzten.“ Augen geschlossen. Die Frau summte vor sich hin und hörte doch zu. Die Katze war verschwunden.
„Die Schusswaffe lag schon in meiner Hand, an der noch etwas Tinte klebte. Es sollte feierlich werden. Ich stand auf, was sich falsch anfühlte und ging zum Fenster, schaute auf ungelüftetes Glas. Mein Kopf gefegt und zum Verkauf. Ich fragte mich ob die alte Frau gestorben war. Ich richtete die Pistole anklagend auf meinem Kopf. Endlich, endlich wurde der Beschuldigte vor Gericht gezerrt. Meine Augen waren aufgerissen.“ Seine Stimme verwandelte sich in eine Windrose im Hinterhof. „Ich atmete ein, was ich immer tue, aber nie so bewusst. Ich atmete aus. Die Scheibe beschlug und die Waffe fiel auf den Boden. Für einen kurzen Augenblick fragte ich mich, ob ich geschossen hatte. Hatte ich nicht. Mein Körper. Ich spürte ihn so plötzlich. Das war ich. Ich. Das Herz, das, so ungefragt, pumpt. Der Atem an der Scheibe. Der Schock auf meinem Gesicht. Ich hatte mich gefunden. Im Versuch mich zu zerstören, offenbarte sich mein Ich. Auf der Suche nach dem Tod fand ich mein Leben. Alles, Alles war ich losgeworden, was mich aufhalten konnte. Und dann verriet mich mein eigener Finger. Er drückte nicht den Abzug. Ich lernte, atmet man flacher, atmet man häufiger. Etwas in mir wollte wieder Leben. Es interessierte sich nicht mehr für den Tod. Ich war wieder durstig"“ Seine Augen schmolzen.
Fast genervt redete er weiter. „Es war sofort wieder weg, dieses Gefühl. Es hinterließ seine Marke, ja, aber es ging. Der alte Stumpfsinn trat an seine Stelle. Ich war verzweifelt. Da war dieser eine, unerklärte Beweis, dass es sich lohnte, durchzuhalten, aufzubauen. Doch etwas stand im Weg. Ich fand es bald. Ich war an einem Punkt angekommen in dem Sterben der einfachere von zwei Wegen ist. Ich hatte alle Seile abgeschnitten. War so hilflos wie ein Neugeborenes. Und an dieser Schwelle blieb dieser eine Gedanke.“ Zum ersten Mal wurde seine Stimme laut. „ Es ist dieser verfluchte Gedanke. „Vielleicht in einem anderen Leben.“ „Vielleicht wird es besser, wenn ich ganz aufgebe“. Vielleicht wache ich dann auf, jemand klopft mir auf die Schulter und sagt, „kein Problem, darfst nochmal ran.“ Das verdiene ich nicht. Ich verdiene keine zweite Chance, wenn ich dadurch die erst aufgebe. Mein Leben sollte wieder kostbar sein. Es ist kostbar, weil es vergänglich ist. Ich kann es lieben, wenn es verschwinden wird. Ich kann es nutzen, wenn die Zeit mir rennt. Darum bin ich hier. Ich möchte einrahmen. Grenzen ziehen. Den Druck spüren, der mich formen kann. Ich muss den Tod endgültig machen.“ Augen geschlossen. Augen wieder offen. Seine Hände lösten sich. Der Hund war verschwunden. Antworten lag in der Luft. Langsam, viel langsamer als Menschen sich bewegen, steckte die Frau ihre Hände wie abwehrend in die Luft. „Ich werde dich nicht aufhalten“, sagte sie schließlich „Du kannst es machen. Aber ich muss dir sagen, ich halte das Leben nicht für eine Chance. Ich halte es für alle Chancen. Denk mal drüber nach. Aber ich werde dich nicht aufhalten.“ Er nickte.
So wandte er sich zum gehen. Als er aus der Wohnung trat, eilte die Frau ihm hinterher. „Eine Sache noch.“ Sie wies auf einen Mülleimer im Flur. „Könntest du das rausbringen, wenn du fertig bist?“ Er seufzte. Dann öffnete er die Tür. Er drückte. Seine Hände die frierenden Hände der Winterkinder, die in den verfrorenen See fielen. Die Tür gab ihm den Weg frei. Die Wohnung der Frau dahinter war verschwunden. Stattdessen breitete sich einladende Dunkelheit aus und der Geruch von Zimtkerzen und Trost. Viel zu sicher trat er ein. Die Frau sah ihm hinterher, Arme in den Hüften. „Definitiv Midlife Crisis“, murmelte sie zu sich und Niemanden. Sie warf die Kippe in den Mülleimer. Schließlich verschwand sie in der Wohnung. Vielleicht sollte sie ein Infoschild aufhängen: "Bitte die Tür nach innen öffnen."
Sechs Stunden später trappelten leise Füße die Treppe hinunter. Eine Melodie war zu hören. „He’s just a poor boy from a poor family,“ sang da jemand. Die Schritte und die Melodie verloren sich in der Nacht. Ein Zug kam. Die Passagiere lachten und berührten und informierten ihre Liebsten über ihr baldiges Ankommen.
Der Zug war nur der Zug.
Im vierten Stock vor einer Südstadtwohnung stand ein kleiner, fremder Mann mit rundem Gesicht. Er fühlte sich leicht fehl am Platz und fragte sich, ob er nicht langsam genug gewartet hat. Neben ihm ein kleiner Koffer, ein Rädchen kaputt. Er hatte ihm im Straßengraben gefunden. Durch Zufall hatte er im Innensamt ein Namenskärtchen entdeckt. Es hatte ihn zu dieser Adresse geführt. „Ich denke, ich lasse ihn einfach hier“, dachte der Mann. „Vielleicht kommt ja doch noch jemand.“ Und dann lief auch er die Treppe hinunter.
Die wenigen Menschen auf den Straßen der Nacht glichen sich wie Schatten und glichen sich doch nicht.
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